Die Resonanz am Sundance Film Festival war überwältigend. Kritiker sprachen über «Past Lives» nur in Superlativen. Sie haben das Filmdebüt von Dramatikerin Celine Song bereits im Januar zu einem Höhepunkt des Jahres gekürt. Und es stimmt: oft ist der Indie-Liebesfilm herausragend. Aber nicht immer.
Song steigt stark ein. Langsam zoomt die Kamera auf drei Mittdreissiger, die zusammen an einer gedämpft beleuchten Bar sitzen. Aus dem Off fragt sich jemand, woher die drei sich kennen. Zwei Geschwister und ein Freund? Wer gehört zu wem?
Dann blendet «Past Lives» zurück. Um ein Vierteljahrhundert fast, weg von New York ins koreanische Seoul. Na Young und Hae Sung gehen dort zusammen zur Schule. Den Nachhauseweg nehmen sie immer zusammen. Noch. Denn Na Young wird bald nach Kanada auswandern. Die Eltern hoffen dort auf ein besseres Leben.
Zwölf Jahre später nimmt Hae Sung mit Na Young, die mittlerweile Nora heisst, über Facebook überraschend Kontakt auf. Es folgen viele lange Skype-Videoanrufe, doch zu einer Begegnung in der realen Welt kommt es nicht. Beide haben ganz unterschiedliche Pläne für ihr Leben, auf gegenüberliegenden Kontinenten. Nora bricht den Kontakt ab. Später lernt sie Arthur kennen.
Inspiriert vom Leben
Dann springt «Past Lives» wieder in die Gegenwart. Nora und Arthur sind mittlerweile verheiratet. Es war ein pragmatischer Entscheid, doch die Liebe ist echt. Und plötzlich taucht Hae Sung wieder auf. Er ist nach New York gereist und möchte nach all den Jahren Nora wieder treffen.
Song liess sich für das Drehbuch von ihrem eigenen Leben inspirieren. Entsprechend authentisch ist ihr Film. Wenn Nora über ihr früheres Leben in Korea, ihre Herkunft und Identität spricht, ist jedes Wort glaubwürdig. Sowieso ist Authentizität eine grosse Stärke des Films. «Past Lives» umschifft jegliche Filmklischees gekonnt.
Das beginnt bereits bei den Figuren. Selbst wenn der Film auf dem Papier einer typischen Dreiecksbeziehung entspricht, so ist niemand der Antagonist. Als Zuschauer hat man Verständnis für alle drei Hauptcharaktere. Auch wenn die innige Beziehung zwischen Nora und Hae Sung in Korea zu wenig Platz erhält, die Motivation der Figuren ist stets nachvollziehbar.
Bei den Dialogen schwächelt «Past Lives» etwas. Sie sind präzise, authentisch und direkt, Probleme und Konflikte werden stets angesprochen. Das ist erwachsen und verschafft Klarheit. Song nimmt den Zuschauer damit aber auch an die Hand. Wong Kar-Wai, der mit «In the Mood for Love» vor zwei Jahrzehnten eine ähnlich sehnsuchtsvolle Liebesgeschichte erzählt hat, ging subtiler vor. Das verlieh dem Film eine Mystik, die bei Songs nüchternem Werk fehlt.
Tiefes Verständnis
Unbestritten hingegen ist, dass die Neo-Filmemacherin ein tiefes Verständnis für ihre Themen hat. Mit vielen kleinen Details zeigt sie das Immigranten-Leben in einer neuen Heimat. Nora träumt immer noch auf Koreanisch, obwohl sie fliessend Englisch spricht und ein Grossteil ihres Lebens in Kanada und den USA verbracht hat. Es entsteht ein mehrschichtiges Gesamtbild, das weit facettenreicher und glaubwürdiger ist als etwa jenes des gefeierten Einwanderer-Multiversum-Knallers «Everything Everywhere All at Once».
Der Kern von «Past Lives» ist aber universell. Es ist eine Frage, die unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sozialem Status anspricht: Was wäre, wenn?
Hier überzeugt der Film mit seiner Nüchternheit. «Past Lives» zeigt das Leben als Reihe von Entscheidungen und Zufällen. Kein Schicksal, keine Vorbestimmung: Es waren Noras Eltern, die die enge Beziehung beider Kinder abrupt beendet haben. 24 Jahre später stehen sich zwei komplett andere Menschen gegenüber. Eine andere Kultur und ein anderes Umfeld haben ihre Spuren hinterlassen.
Die Was-wäre-wenn-Frage beantwortet Autorin Song darum schlussendlich nicht. Es wäre vergebene Liebesmüh. Das Leben ist in einem Vierteljahrhundert weiter gezogen. Und doch zeigt sie, dass im Hinterkopf ein kleines Stück irrationale, kindliche Sehnsucht nach dieser früheren Beziehung geblieben ist. Das ist ehrlich. Aller Abgeklärtheit zum Trotz, ist «Past Lives» ein zutiefst menschliches Drama.
Eigentlich unglaublich, dass es sich hier um ein Regiedebüt handelt. Song führt selbstbewusst und mit einer unglaublichen Präzision Regie. Keine Einstellung wirkt unüberlegt. Und trotz höheren Kosten hat sie die Bilder statt digital analog auf 35 Millimeter gefilmt. Zu einem Film, der weit in die Vergangenheit blickt, passt das gut. Untermalt wird das Geschehen von einem warmen, minimalistischen Score von Musikern der Indieband Grizzly Bear. Ton und Bild verschaffen eine angenehme Atmosphäre, die die Geschichte sanft trägt. Auch wenn dabei ein leichter Hipster-Beigeschmack entsteht.
Song lässt den Figuren genügend Raum, um auch mal zu schweigen. Dann nehmen Blicke und Mimik die Leinwand ein. Die Filmemacherin profitiert dabei von einem unbekannten, aber herausragenden Cast. Greta Lee, Teo Yoo und John Magaro – sie haben wie Song alle einen Theater-Hintergrund – geben dem Film den emotionalen Feinschliff. Besonders wenn sie gegen Schluss zu dritt vor der Kamera stehen, entfaltet sich eine wunderbare Dynamik. Die letzten 25 Minuten von «Past Lives» sind perfekte Kinomagie. Ein Höhepunkt des Jahres.
Selbst gestandene Regisseure scheitern regelmässig darin, die Natur des Menschen mit Bildern und Worten einzufangen. Song kann das. Sie hat sich mit ihrem Debütwerk gleich in den Olymp moderner Filmemacher katapultiert. Zuletzt ist das nur Jordan Peele gelungen. Doch damit lastet auch ein enormer Druck auf der Neo-Filmemacherin. Kann sie die Punktlandung beim nächsten Anlauf wiederholen?
«Past Lives» ist als Video-on-Demand verfügbar.