«Evil Does Not Exist» handelt von Gleichgewicht. Und wie schnell es kippen kann. Ein mehrschichtiges, ruhiges Drama fernab vom pulsierenden Grossstadtleben. Der oscarnominierte japanische Regisseur Ryûsuke Hamaguchi beweist erneut, dass er zu den besten Filmemachern unserer Zeit gehört.
Im Zentrum steht ein kleines, abgelegenes Bergdorf in der Nähe von Tokio. Dort führt Takumi (Hitoshi Omina) gemeinsam mit seiner achtjährigen Tochter Hana (Ryo Nishikawa) ein naturverbundenes Leben. Schon in jungem Alter kennt das Mädchen Pflanzen und Tiere. Ihr Vater, ein sehr zurückhaltender Mann, verdient sein Geld mit einfachen Handwerkerjobs.
Unerwartet wird die ländliche Idylle gestört, als eine städtische Firma ankündigt, am Dorfrand einen noblen Camping-Platz bauen zu wollen. Die Bewohner sind skeptisch. Sie fürchten, dass die auf dem Areal geplante Kläranlage ihr Quellwasser verschmutzen würde. Das Hauptargument der Betreiber – mehr Geld dank zahlungskräftigen Städtern – zieht bei ihnen nicht. Für Tourismus ist das Dorf nicht eingerichtet.
Regisseur und Drehbuchautor Hamaguchi erzählt mit «Evil Does Not Exist» eine simple, aber facettenreiche Geschichte. Von staatlichen Subventionen, unbefriedigenden Jobs, Einsamkeit in der modernen Welt, hin zum Widerspruch zwischen Profit und Naturschutz. Vor allem aber handelt die Erzählung von einem tief verwurzelten Stadt-Land-Graben. Von Vorurteilen und Misstrauen. Das macht den Film universell: Er könnte ebenso in den Rocky Mountains oder den Schweizer Alpen spielen.
Das Böse existiert nicht
Der Regisseur bringt mehrere Perspektiven ein. Da sind Takumi und Hana, die abgeschottet von der Grossstadt ein einfaches Leben führen. Ihnen gegenüber stehen Takahashi (Ryuji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani), die jobbedingt zwischen Dorfbewohnern und Arbeitgeber vermitteln. Der Zuschauer fühlt auch mit ihnen. Wie der Titel suggeriert: Gut und Böse gibt es bei «Evil Does Not Exist» nicht. Oder doch?
Das abgelegene Dorf ist ein geschlossenes Ökosystem. Nur der kleinste Eingriff kann es aus der Balance bringen. Das gilt nicht nur für die Kläranlage. Unabhängig von ihren Jobs verändert die Ankunft von Takahashi und Mayuzumi das Leben im Bergdorf. Spürbar werden die Auswirkungen erst später.
Hamaguchi spielt mit Ursache und Wirkung, ohne jemals den Fokus zu verlieren. Im Zentrum von «Evil Does Not Exist» stehen Menschen und ihre Gefühlswelt. Mit vorsichtigen Schritten nähert sich der Filmemacher seinen Figuren an. Verglichen mit dem bereits ruhigen Vorgängerwerk «Drive My Car» schreitet der Regisseur dabei noch etwas behutsamer voran. Das verschafft Authentizität, ist aber nichts für Ungeduldige.
Mit präzisen Aufnahmen erschafft Hamaguchi umgehend eine ruhige, leicht bedrohliche Stimmung. Kein einzelnes Element auf der Leinwand wirkt zufällig. Der Filmemacher präsentiert sich erneut als Meister der Bildsprache. Untermalt ist das Werk erneut von einem hinreissenden schönen Streicherscore von Eiko Ishibashi, die dem Geschehen zusätzlichen Tiefgang verleiht. Musik und Bilder verschmelzen selten so wie hier. Das überrascht nicht: Komponistin und Regisseur haben den Film ursprünglich als Stummfilm gedreht.
«Evil Does Not Exist» ist ein perfekt inszeniertes Drama, mit spannenden Charakteren und einer Geschichte, die weit über das rurale Japan hinausstrahlt. Regisseur Hamaguchi hat erneut ein Werk erschaffen, dessen Wirkung noch lange nach dem Abspann anhält. Dafür gehen wir ins Kino.