Glücklich scheint Eva (Tilda Swinton) nur in diesem Moment: «We need to talk about Kevin» eröffnet mit Bildern der Tomatina, Spaniens berühmtem Tomatenfest. Hunderte Menschen, dicht aneinander gedrängt, alle blutrot beschmiert. Inmitten die Hauptfigur, die auf dem Rücken liegend von der Menge getragen wird. Sie lacht.
Mehr schöne Momente gibt es nicht. Nach dem Tomatenfest sehen wir Eva in mehreren Sequenzen. Dabei springt der Film wie in einem (Alb)Traum zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Die Zeitsprünge sind anstrengend anzusehen, zeigen aber ein exaktes Bild von Evas Gefühlswelt.
Die zweifache Mutter steht am Abgrund. Sie kämpft mit massiven Schuldgefühlen. Grund ist der Erstgeborene Kevin, doch das Warum ist unbekannt. Kevin muss etwas Schreckliches getan haben.
Nach dem Auftakt ändert der Film seine Erzählstruktur. Zeitsprünge gibt es immer noch, doch hauptsächlich zeigt «We need to talk about Kevin» jetzt chronologisch auf, wie das Kind aufgewachsen ist.
Die Abneigung ist gegenseitig
Eva wollte nie Kinder. Sie ist ihrem Sohn gegenüber kalt und ungeduldig, jegliches mütterliches Verhalten wirkt erzwungen. Auch wenn die Katastrophe erst später eintrifft, verzweifelt ist Eva bereits seit Kevins Geburt.
Er ist kein typischer Junge. Früh zeigt sich, dass die Abneigung nicht nur von der Mutter, sondern vielmehr auch vom Sohn kommt. Kevin will nur mit seinem Vater spielen, nie aber mit seiner Mutter. Er zerstört mutwillig ihr Zimmer und um sie zu demütigen macht er sich absichtlich in die Hose. Dieses sadistische Verhalten verstärkt sich mit dem Älterwerden dramatisch.
Unweigerlich musste ich dabei an den Teufels-Jungen Damien aus «Das Omen» denken. Doch «We need to talk about Kevin» ist kein Horrorfilm, sondern ein dunkles, realistisches Drama über eine dysfunktionale Mutter-Sohn-Beziehung.
«We need to talk about Kevin» überzeugt mit erstklassigem Cast
Tilda Swinton ist fantastisch. Ich kann mir keine andere Schauspielerin vorstellen, die die Figur so verletzlich, bewegend und glaubwürdig hätte rüberbringen können. Eine perfekte Besetzung ist auch John C. Reilly. Er passt hervorragend in die Rolle des liebevollen, gutmütigen, aber blauäugigen Familienvaters Franklin, der einen Gegenpol zu Eva darstellt.
Kevin wird von drei Schauspielern gespielt: Rock Duer als Kleinkind, Jasper Newell als Sechsjähriger und Ezra Miller als Teenager. Besonders letzterer überzeugt durch eine furchteinflössende Darstellung.
Der Film basiert auf dem preisgekrönten gleichnamigen Roman der Journalistin und Autorin Lionel Shriver. Regisseurin Lynne Ramsay macht durch starke Bilder (besonders mittels Handheld-Aufnahmen) und den subtilen Einsatz von Musik (Komponist ist Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood) die Geschichte auch auf der Leinwand zu einem intensiven, stellenweise sehr unangenehmen Erlebnis.
Ramsays dritter Spielfilm lässt kaum Atempausen zu. Die Stimmung schwankt zwischen bedrohlich und depressiv, Lichtblicke gibt es nie. Bestenfalls drückt etwas schwarzer Humor durch. Für zarte Gemüter ist der Film nichts.
Anders als der Titel suggeriert, sprechen Eva und Franklin nie richtig über Kevin. Kommunikation ist ein blinder Fleck der Familie. Auf wichtige Fragen liefert der Film daher auch keine Antworten, weil sie niemand kennt. Manche mögen das als unbefriedigend empfinden. Doch genau in der fehlenden Gewissheit liegt die Stärke von «We need to talk about Kevin».