Vortex (2021)

Gaspar Noé ist Enfant terrible des europäischen Kinos. Werke wie «Irréversible» oder «Climax» sorgen auch Jahre nach Veröffentlichung für rote Köpfe. Das Demenz-Drama «Vortex» dürfte hingegen viele positiv überraschen. Für einmal schockiert der Autorenfilmer weder mit Sex, Gewalt noch Drogenexzessen, sondern berührt mit intimem Realismus.

Am Anfang scheint kurzzeitig alles perfekt. Irgendwo in Paris stösst ein altes, namenloses Ehepaar (Giallo-Altmeister Dario Argento und Françoise Lebrun) auf einem blumengeschmückten Balkon mit einem Glas Wein an. Von da an geht es abwärts.

Der Film begleitet die beiden durch den Alltag. Das scheint zunächst trivial, durch die Demenz der Frau werden aber selbst einfache Abläufe zu unvorstellbaren Herausforderungen.

Er (Dario Argento) schaut auf den Balkon und sie (Françoise Lebrun) ist im Wohnzimmer. Vortex von 2022
Dank Splitscreen weiss der Zuschauer immer, was sie (Françoise Lebrun) und er (Dario Argento) gerade machen.

Die Thematik wirkt für Provokateur Noé erst untypisch, dennoch ist «Vortex» stilistisch umgehend als dessen Werk erkennbar. Die Farben Gelb, Rot und Orange dominieren die Leinwand. Visuell sticht vor allem der Splitscreen heraus. Während über zwei Stunden Laufzeit zeigt der Film je zwei Bilder: links die Frau, rechts der Mann.

«Vortex» ist ein persönliches Werk

Der Zuschauer weiss so stets, was beide Protagonisten machen. Er ist am Telefon, sie irrt durch die Nachbarschaft. Er liegt im Bett, sie setzt den Kaffeeboiler auf – und lässt ihn überkochen. Manchmal fällt es allerdings schwer, sich auf beide Figuren zu konzentrieren.

Und das ist der Punkt des Filmemachers. Eigentlich benötigt die Frau professionelle Betreuung. Ihr gesundheitlich ebenfalls angeschlagener Mann kann das nicht bieten. Doch Angst und falscher Stolz hält die beiden vom Umzug in ein betreutes Wohnheim ab.

«Vortex» ist Noés bisher persönlichstes und zugleich zugänglichstes Werk. Im Teenageralter verlor seine Grossmutter den Verstand, später erkrankte seine Mutter an Alzheimer. Ein Schicksal, das viele Zuschauer aus der eigenen Familie kennen dürften.

Noé ist nicht der erste Filmemacher, der sich dem Thema annimmt. Mit den beiden oscarprämierten Werken «Amour» und «The Father» wurde die Krankheit jüngst zweimal ganz unterschiedlich in Szene gesetzt. Ersterer als Liebesdrama, letzterer als Psychothriller. 

«Vortex» setzt hingegen auf nüchternen Realismus. Wie in früheren Werken lässt der Filmemacher die Kamera laufen, wo andere ausblenden. Das ist oft unangenehm, manchmal herzzerreissend. Wenn die Mutter den Sohn mit ihrem Mann verwechselt, geht das an die Nieren. Noé zeigt erneut die Schrecken des Lebens, wenn auch zurückhaltender.

Diese bedrückende Stimmung erschafft er mit einem kleinen, aber starken Cast. Vor allem Françoise Lebrun überzeugt durch ihre minimalistische, lebensechte Darstellung: Wie sie ihre Lippen bewegt, aber keine Worte findet. Oder wie sie mit den Augen nervös den Raum durchsucht, der ihr plötzlich fremd ist. Kein Wimpernzucken, kein Wimmern, kein leerer Blick ist zu viel.

Wer einen Skandalfilm erwartet, der wird von «Vortex» enttäuscht. Der Kinobesuch lohnt sich aber gewiss. Noé hat nicht nur seinen persönlichsten, sondern einer seiner besten Filme abgeliefert.

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