Titane (2021)

Cannes kürt gerne Filme abseits des Mainstreams. Auf den diesjährigen Gewinner der «Goldenen Palme» trifft das besonders zu: «Titane» ist ein bizarrer Ritt, abgründig und herzerwärmend zugleich, der viele Kinogänger vor den Kopf stossen dürfte.

Es braucht keine grossen Anstrengungen dem Plot zu folgen. Alexia (Agathe Rousselle) ist Tänzerin an Auto-Shows, wodurch sie eine gewisse Szene-Berühmtheit erlangt hat. Doch ihre Liebe geht weiter als jede der – hauptsächlich männlichen – Besucher. Die junge Frau hat Sex mit Autos.

Mit Menschen kann sie nicht. Als ein aufdringlicher Fan sie belästigt, bringt sie ihn um. Es ist nicht ihr erster Mord – und wird nicht der letzte sein. Nachdem ihr die Polizei auf die Schliche kommt, nimmt Alexia eine neue Identität an und kommt beim geschiedenen Feuerwehrmann Vincent (Vincent Lindon) unter.

Fühlt sich alt: Vincent (Vincent Lindon)

Das Werk von Autorenfilmerin Julia Ducournau wirkt anfänglich wie eine Mischung aus David Cronenbergs düsterem Auto-Fetisch-Streifen «Crash» und John McNaughtons bedrückendem Serienmörder-Drama «Henry: Portrait of a Serial Killer». «Titane» ist brutal und verstörend. Wenig überraschend, sind bei der Uraufführung in Cannes einige Zuschauer aus dem Kinosaal gestürmt.

«Titane» ist mehr als Horror

Nach dem heftigen ersten Akt fährt die Filmemacherin die (Body)Horror-Elemente zurück. Der Ekel weicht menschlicher Wärme, auf dunkle Abgründe folgt leichter Humor. Mainstreamtauglich wird «Titane» bis zum Schluss freilich nicht.

Ducournau will mehr als schockieren. Doch aller expliziter Sex- und Gewaltdarstellung zum Trotz: Das Herzstück von «Titane» sind universelle Themen wie Einsamkeit, Zugehörigkeit und Identität. Und damit geht die Regisseurin äusserst feinfühlig um.

Anfangs ihr abgeneigt, entwickelt der Zuschauer Alexia gegenüber Verständnis. Aus der kalten Killerin wird ein einsamer Mensch. Die Filmemacherin braucht dafür keine Worte, sondern schüchterne Blicke, Tränen und herzliche Umarmungen. So muss gutes Kino sein.

Der Cast ist schlicht phänomenal. Herzzerreisend spielt Lindon den Feuerwehrmann, der Mühe mit dem Altwerden hat. Doch Rousselle trägt «Titane». Mit ihrem Spielfilmdebüt stellt sie so manches Hollywood-Talent in den Schatten. Ihr Schauspiel ist roh und ehrlich, hemmungslos und zerbrechlich zugleich. Die Französin wird berechtigterweise als Neuentdeckung des Jahres gehandelt.

Filmemacherin Ducournau überzeugt nicht nur konzeptionell. Auch optisch spielt «Titane» in der Oberklasse. Mit Licht und Schatten spielt die Pariserin gekonnt, und beeindruckende Weitwinkel-Aufnahmen machen ihr Zweitwerk zu einem cineastischen Erlebnis.

Aus den meisten Schweizer Kinosälen ist die französisch-belgische Produktion kurz nach Filmstart bereits wieder verschwunden. Das ist schade, überrascht aber nicht. «Titane» war nie für ein breites Publikum gedacht. Und doch wird der Film noch lange zu reden geben.

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