In Kultur und Unterhaltung sind Nazis oft Karikaturen. Machthungrige Grabräuber in «Indiana Jones», Esoteriker mit übernatürlichen Kräften in den «Wolfenstein»-Spielen. Wer Millionen Opfer auf dem Gewissen hat, kann kein normaler Mensch sein – so zumindest die Annahme. Tatsächlich war die Realität banaler, wie «The Zone of Interest» zeigt. Nüchtern erzählt das Drama aus dem Leben von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss (Christian Friedel) und dessen Familie. Eine politisch hochrelevanter, oft verstörender und audiovisuell überwältigender Film.
Regisseur Jonathan Glazer beginnt seine Erzählung an einem Fluss. Höss und sein Nachwuchs sitzen in Bademontur im Gras, dazwischen seine Frau Hedwig (erneut stark: Sandra Hüller) in schwarzem Kleid. Eine Familie im Freizeitmodus. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Mann für den Tod von über einer Million Menschen verantwortlich ist. Später sieht der Zuschauer die Höss‘ beim Essen, bei Partys im Garten oder auf Ausflügen. Ganz normaler Alltag.
Die Familie wohnt direkt neben dem Konzentrationslager. Das Haus wurde vergrössert, um den Ansprüchen der Höss‘ zu genügen. Den grossen Garten hat Hedwig nach ihrem Geschmack gestaltet. «Ich habe natürlich Gärtner», sagt sie ihrer Mutter, als diese auf Besuch kommt. Was hinter der Mauer des KZs geschieht, darüber wird nie gesprochen. Nur ein paar Wertsachen von Insassen lassen die Realität in das Haus einziehen: ein schöner Pelzmantel und ein Lippenstift für die Mutter, Goldzähne zum Spielen für die Kinder. Deren Herkunft ignoriert die Familie mit schockierender Selbstverständlichkeit.
Systematisches Töten als Herausforderung
Das Grauen des Konzentrationslagers ist trotz Scheuklappenblick der Höss‘ in «The Zone of Interest» omnipräsent. Dunkle Rauchschwaden aus dem Kamin, das dumpfe Rattern des Krematoriums, die dreckige Luft, Schreie und Gewehrschüsse passen nicht zur kleinbürgerlichen Welt im Einfamilienhaus. Was beim Zuschauer den Atem stocken lässt, ist für die Familie Normalität. Nur Hedwigs Mutter lässt die schreckliche Realität in Auschwitz nachts wach bleiben.
Was hinter den Mauern des Konzentrationslagers geschieht, zeigt «The Zone of Interest» nie: stattdessen Büros und Sitzungszimmer. Rudolf Höss diktiert am Telefon Briefe oder begutachtet ohne Wimpernzucken Pläne für den Dauerbetrieb von Auschwitz. Keine Spur von Reue und Empathie. Das systematische Töten von Menschen als banale Arbeit, als Herausforderung, die angegangen werden muss. Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert wird während den Nürnbergern Prozessen KZ-Kommandanten Höss als sachlich und gefühllos beschreiben.
Bei Filmen über die Shoah stellt sich immer die Frage, ob das Leid von Millionen von Menschen zur Unterhaltung dienen darf. Der österreichische Filmemacher Michael Haneke kritisierte einst seinen Hollywood-Kollegen Steven Spielberg für dessen Herangehensweise bei «Schindlers Liste». «Man kann nicht ein Spannungsmoment daraus machen, ob aus einer Dusche Gas oder Wasser kommt». Unbestritten ist jedoch, dass Spielberg mit seinem zugänglichen Ansatz ein extrem breites Publikum für das Thema sensibilisiert hat.
Porträt einer Familie
«The Zone of Interest» muss sich solche Fragen nicht stellen. Der Film wie das gleichnamige Buch von Martin Amis, auf dem Glazers Werk lose basiert, konzentriert sich einzig darauf, die Nazifamilie in all ihren Facetten zu porträtieren. Darum streichelt der KZ-Kommandant auch mal zärtlich sein Pferd und liest seinen Töchtern mit sanfter Stimme «Hänsel und Gretel» vor. Distanz schafft der Regisseur mit der Kamera. Nahaufnahmen hat der Film keine, der Zuschauer bleibt dadurch über die ganze Laufzeit Beobachter von der Seitenlinie. Die präsentierten Bilder sind kühl und farblos. Eine Emotionalisierung ist nicht gewünscht.
Im Gegensatz dazu steht das Sounddesign. Es ist ein Kontrast zu der gezeigten Pseudo-Idylle der Familie Höss und fängt die Schrecken des Konzentrationslagers in Tonform ein. Mit geschlossenen Augen wird der Film zu einem albtraumhaften Hörspiel. Nur hier sind Parallelen zu Glazers surrealem und sperrigen Vorgängerwerk «Under the Skin» offensichtlich.
In keinem Moment werden durch die distanzierte Machart Täter verharmlost. Glazers Werk ist eine nüchterne Analyse: Das Böse kommt nicht in der Form des Teufels, sondern unaufgeregt daher. Nazis waren keine bestialischen Monster, nur normale Menschen. Und für Gräueltaten braucht es keine bestialischen Sadisten: Es reichen simple Bürokraten und nüchterne Befehlsempfänger. «The Zone of Interest» sollte uns eine Warnung sein.
«The Zone of Interest» hat im Frühjahr in Cannes den Grand Prix du Jury erhalten. Kinostart in der Schweiz ist Februar 2024.