Ichbezogen, unentschlossen und beziehungsunfähig: Über Millennials wird viel Unrühmliches gesagt. Wer sie besser verstehen will, sollte sich «The Worst Person in the World» anschauen. Autorenfilmer Joachim Triers Porträt einer 30-Jährigen fängt das Lebensgefühl der Babyboomer-Nachkommen mit viel Gefühl, Witz und Scharfsinn ein.
Am Anfang steht ein Klischee: Julie (Renate Reinsve) weiss nicht, was sie will. Zwei Studiengänge bricht sie ab, ehe sie glaubt, in der Fotografie ihre Berufung gefunden zu haben. Auch das wird nichts. Erst durch die Beziehung mit dem 15 Jahre älteren Comicbuchautor Aksel (Anders Danielsen Lie) gewinnt ihr Leben an Stabilität. Bald wird der Altersunterschied aber zum Problem.
Die Ausgangslage ist altbekannt. Anders als typische Genre-Filme, macht Trier aus dem Stoff keine kitschige Tragikomödie, sondern ein berührendes und humorvolles Drama. Dabei zeichnet er ein liebevolles und authentisches Bild einer jungen Nordeuropäerin, die mit ihren vielen Optionen nicht zurechtkommt. Es ist ja nicht nur das Studium. Familie oder Karriere? Beides? Oder weder noch? Julie ist überfordert.
Trier – er gehört mit Jahrgang 1974 der Generation X an – zeigt das Leben seiner Protagonistin vorurteilsfrei. Er gibt dem Zuschauer genug Zeit, um Verständnis für Julie aufzubauen. Es sind nicht nur Karriere und Liebe, die sie überfordern. «The Worst Person in the World» thematisiert auch Krankheiten, Klimawandel und Feminismus – Sexismus oder Kunst? Ist eine Avocado okay? Alles ist kompliziert geworden, überall lauern Konflikte.
Kurzweilig und visuell ansprechend
Der norwegische Autorenfilmer geht angenehm zügig voran, seine Kamera läuft nie länger als nötig. Der Film ist in zwölf kurzweilige Kapitel aufgeteilt. Die über zwei Stunden Spielzeit gehen schnell vorbei. Perfekt für Millennials mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne, mögen Zyniker sagen.
Trier setzt auf eine natürliche, teils fast dokumentarische Ästhetik, ohne auf visuelle Schönheit zu verzichten. Seine Bilder sind kontrastreich und mit viel Tiefenschärfe, wirken aber nie unnötig künstlerisch. Der Soundtrack passt sich unaufgeregt der Situation an. Mal entspannter Jazz, mal melancholische Pianomelodien. Es stimmt immer.
Renate Reinsve wurde in Cannes als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ihr neckisch-authentisches Spiel passt für ihre Rolle perfekt. Sowieso überzeugt «The Worst Person in the World» mit einem ausgezeichneten Cast. Jede Träne, jedes Lachen: alles wirkt lebensecht.
Mit seinem jüngsten Wurf erweist sich der Filmemacher erneut als Menschenkenner. Auch wenn der Ausdruck «der schlimmste Mensch der Welt» irgendwann fällt: In diesem Europa-Kino gibt es weder Schwarzweissdenken noch moralische Überlegenheit.