Regisseur Paul Thomas Anderson bezeichnet «The Master» als Lieblingswerk seiner Filmografie. Grosse Worte von einem Mann, der moderne Klassiker wie «There will be Blood», «Magnolia» oder «Boogie Nights» gedreht hat.
Andersons sechster Film ist sperriger als frühere Werke. Dabei ist die Geschichte im Grundsatz simpel. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Freddie Quell (Joaquin Phoenix) traumatisiert in die USA zurück. Er säuft, flucht und wird übergriffig. Ihm fällt es schwer, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden.
Quell hangelt sich von Job zu Job. Nachdem er eines Abends versehentlich einen Gastarbeiter vergiftet hat – er mischt ständig «Drinks» mit Chemikalien aus Werkstatt und Medizinschrank – versteckt er sich auf der Yacht von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman). Dort fällt er schnell auf.
Dodd ist ein intelligenter, kultivierter Mann. Er sei Schriftsteller, Nuklearphysiker und Philosoph, sagt er Quell bei der ersten Begegnung. Trotz offensichtlicher Unterschiede entsteht zwischen beiden Männern sofort eine Verbindung. Dodd – Vater von zwei Kindern – sieht im Kriegsveteranen sein Protegé.
«The Master» dreht sich um die Gründung einer Sekte
An Bord sind nicht nur Dodds Familie, sondern auch Teil seiner Anhänger. Durch selbst entwickelte Techniken will Dodd ihnen ermöglichen, sich an frühere Leben zu erinnern. Quell nimmt den «Ursprung» – so der Name der religiösen Bewegung – zu Beginn nicht ernst. Bald aber ändert sich das.
«The Master» lässt viel Interpretationsspielraum zu. Offensichtlich sind die Parallelen zu Scientology. Gründer L. Ron Hubbard war ebenfalls Schriftsteller, wie Dodd hat auch er sich nach England zurückgezogen. Die pseudowissenschaftlichen Test-Methoden wurden unverändert von der Psycho-Sekte übernommen.
Den Film als Scientology-Kritik abzustempeln wäre zu einfach. Dafür ist «The Master» auch zu uneindeutig. Im Kern dreht sich die Geschichte um eine Männerbeziehung und die Frage, warum sich Dodd überhaupt dem unberechenbaren Taugenichts annimmt.
Als Sektenführer nutzt er Quell als Versuchskaninchen. Brauchen tut er ihn dafür nicht, immerhin hat der «Ursprung» bereits Anhänger in der ganzen Welt. Doch auch hier ist die simple Antwort zu einfach.
Quell und Dodd sind sich ähnlich
Gut möglich, dass sich Dodd in dem jungen Mann wiedererkennt. Oberflächlich sind die Figuren gegensätzlich, trotzdem gibt es Ähnlichkeiten. Beide Männer bewegen sich am Rande der Gesellschaft: Quell ist ein Streuner, Dodd schliesst andersdenkende Menschen durch seine vermeintliche Überlegenheit aus.
Beide haben ein Aggressionsproblem. Das dringt bei Dodd zwar selten, dann aber umso überraschender an die Oberfläche durch. Als während einer Party ein Mann die fehlende Wissenschaftlichkeit des «Ursprungs» kritisiert, beschimpft Dodd den Fremden vor allen Gästen lauthals als «Arschficker». Selbst von treuen Anhängern toleriert er keine Kritik.
Gleichzeitig fühlt sich der «Ursprung»-Gründer durch den Kriegsveteranen angezogen. Während er und seine Anhänger auf Sinnessuche sind, stolpert Quell gedanken- und rücksichtslos durchs Leben. Seine Entscheide trifft er aus dem Bauch heraus, weder Vater noch Gott haben Einfluss darauf.
Möglicherweise, dass die Anziehung teils sexuell ist. Das zeigt sich etwa während des letzten Dialogs beider Figuren, wo Dodds Emotionen weit mehr als nur freundschaftlich scheinen.
Wunderschöne Analog-Aufnahmen
«The Master» lässt sich auch denkfaul geniessen. Von der ersten Aufnahme an begeistert der Film durch imposante Bilder. Die kontrastreichen analogen Aufnahmen sind so hinreissend, sie würden eingerahmt perfekt an die Wand passen.
Erstklassig ist auch die Musik. Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat bereits bei Andersons Vorgängerwerk «There will be Blood» und Lynne Ramsays «We need to talk about Kevin» einen starken Score abgeliefert. «The Master» ist allerdings sein bisheriges Meisterstück. Die mit bedacht komponierte, aber hochsperrige Kammer-Musik untermalt den rätselhaften Grundton des Films perfekt. Wenig überraschend, haben beide Filmemacher später wieder mit dem Briten zusammengearbeitet.
Meisterhaft auch das Schauspiel. Die beiden Ausnahme-Talente Phoenix und Hoffman stacheln sich zu Höchstleistungen an. Das Resultat ist ein intensives, aber authentisches Schauspiel. Auch Amy Adams glänzt in einer Nebenrolle als Dodds zielstrebige, kalte Ehefrau. Alle drei wurden zu Recht für ihre Leistung mit einem Oscar nominiert – wobei niemand das Goldmännchen nach Hause nehmen durfte.
«The Master» richtet sich nicht an ein Mainstream-Publikum. Die Geschichte schreitet langsam voran, die Erzählstruktur ist untypisch. Die Einen finden das faszinierend, die Anderen langweilig. Ich zähle mich zur ersten Gruppe.