Spurlos verschwunden (1988)

«Spurlos verschwunden» ist ein eigenartiger Thriller: Der Aufbau ist untypisch, die Perspektiven ungewohnt und Fragen des Zuschauers werden alle beantwortet. Trotzdem gehört der Film des holländischen Regisseurs George Sluizer zu den besten des Genres.

Darum gehts: Das Paar Rex (Gene Bervoets) und Saskia (Johanna ter Steege) sind auf einem Roadtrip durch Frankreich. Auf einer Autobahnraststätte verschwindet die junge Niederländerin, die nur sehr gebrochen Französisch spricht, plötzlich. Für ihren Freund beginnt eine verzweifelte Suche.

Raymond (Bernard-Pierre Donnadieu) ist kein typischer Täter

Darauf würde ein Thriller normalerweise fokussieren, nicht aber «Spurlos verschwunden». Kurz nach Saskias Verschwinden wechselt Sluizer die Perspektive. Im Zentrum ist plötzlich Täter Raymond (Bernard-Pierre Donnadieu) – wobei nicht klar ist, was er Saskia angetan hat.

Dann ein Zeitsprung. Drei Jahre später hat sich nichts geändert. Der Fall ist noch offen, Rex noch immer im Ungewissen. Doch er hält verbissen an der Suche fest.

Thriller leben normalerweise von Einseitigkeit. Sie zeigen die Perspektive des Opfers oder des Ermittlers. Mit ihnen geht der Zuschauer auf Spurensuche. Der Täter ist hingegen oft nur eine Hülse, die der Handlung dient. Bei «Spurlos verschwunden» trifft das nicht zu. Der Zuschauer weiss mehr als die Figuren, er kennt Täter und Opfer zugleich.

«Spurlos verschwunden» beantwortet alle Fragen

Rex ist ein rastloser Mann. Einst angetrieben durch Liebe, sehnt er sich später nur noch nach Gewissheit. Raymond ist ein liebevoller, humorvoller Familienmensch. Zum Täter macht ihn weder Hass, Wut noch religiöser Fanatismus, sondern alltägliche Neugierde. Klischees weichen dem Realismus, das simple Gut-Böse-Schema zieht hier nicht. Dadurch entsteht eine bedrückende Stimmung und eine teils sehr unangenehme Spannung.

Meisterregisseur Stanley Kubrick bezeichnete «Spurlos verschwunden» als furchteinflössendsten Film, den er je gesehen habe. So weit würde ich nicht gehen. Leicht verdauliche Kost ist Sluizers Werk freilich nicht. Einerseits kann sich jeder in die verzweifelte Situation von Rex hineinversetzen, andererseits fährt das unvermeidbare, zynische Ende richtig ein. (Darum sollte man das US-Remake meiden. Das Ende wurde für das amerikanische Publikum entschärft.)

«Spurlos verschwunden» überrascht mit unterschiedlichen Perspektiven.

Der Film basiert auf dem Roman «Das goldene Ei» des holländischen Schriftstellers Tim Krabbé, der mit Sluizer gemeinsam das Drehbuch verfasst hat. Nicht nur die Story überzeugt, «Spurlos verschwunden» punktet auch mit starken Darstellern. Ter Steege liefert ein eindrucksvolles Schauspieldebüt ab, Donnadieu ist furchteinflössend und sanft zugleich. Besonders gefallen hat mir Bervoets, sei es als liebevoller Partner oder als verzweifelter Suchender.

«Spurlos verschwunden» ist auch über 30 Jahre nach seiner Uraufführung ein erstklassiger und innovativer Thriller. Einzig der Soundtrack von Komponist Henny Vrienten wirkt heute altbacken. Der Stimmung schadet das überraschend nicht. Das spricht eindeutig für Sluizers Werk.

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