Saint Omer (2022)

Fast meditativ, aber nie entspannend: «Saint Omer» ist ein ganz besonderes Filmerlebnis. Ein ruhiges Gerichtsdrama, dessen Tiefe und Intensität den Zuschauer beinahe erdrückt. Vorausgesetzt, man lässt sich auf das Kammerspiel ein.

Professorin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) ist in das idyllische nordfranzösische Städtchen Saint Omer gereist, um dem Prozess gegen Kindermörderin Laurence Coly (Guslagie Malanda) beizuwohnen. Sie erhofft sich Inspiration für ihr Buch, eine Neuinterpretation des Medea-Mythos. Doch plötzlich sieht Rama, die wie Laurence senegalesische Wurzeln hat, viele Parallelen zwischen sich und der Angeklagten.

«Saint Omer» ist minimalistisch, der Grossteil des Films spielt sich im Gerichtssaal ab. Dokumentarfilmerin Alice Diop liefert mit ihrem Spielfilmdebüt ein Werk ab, das sich ganz auf seine Figuren konzentriert. Statt mit vielen Schnitten Tempo zu generieren, lässt sie die Angeklagte, Anklage und Zeugen ausreden.

Unter Druck: Laurence Coly (Guslagie Malanda)

Dadurch entsteht ein Realismus, der sonst eigentlich Dokumentarfilmen vorenthalten bleibt. Dennoch ist kein Wort überflüssig, keine Geste unnötig. Die Geschichte, die Diop gemeinsam mit ihren Co-Autoren Amrita David, Zoé Galeron und Marie N’Diaye entwickelt hat, ist grosse Filmkunst.

Alles passt zusammen

Als Zuschauer hört man gebannt zu, wenn Laurence aus ihrem Leben erzählt. Es ist eine niederschmetternde Geschichte um Armut, Rassismus, Isolation und psychische Erkrankungen. Dennoch ist «Saint Omer» alles andere als eindeutig. Das Urteil müssen Geschworene und Zuschauer selbst fällen.

Regisseurin Diop flechtet im Laufe des Films die erzählerischen Ebenen eng zusammen. So entsteht ein komplexes Gesamtbild, das die Geschichte zusammenfasst und zugleich Antworten auf existenzielle Fragen liefert. «Saint Omer» ist aber mehr als nur Kino für den Kopf. Durch die ruhige, ungefilterte Erzählweise werden Emotionen direkt von der Leinwand auf den Zuschauer übertragen.

Bedrückend: Trailer zu «Saint Omer»

Mit der fast gespenstischen Machart erinnert Diops Spielfilmdebüt an «Memoria» von Slow-Cinema-Grossmeister Apichatpong Weerasethakul. Beide erschaffen eine unbequeme Ruhe, die den ganzen Körper des Zuschauers einnimmt. Die französische Filmemacherin fokussiert sich allerdings mehr auf ihre Figuren als deren Umfeld.

Leider schafft sie es nicht ganz, die Intensität über die ganzen zwei Stunden Spielzeit aufrechtzuerhalten. Ein starkes, erinnerungswürdiges Finale kompensiert dann aber dieses Manko. Zudem beeindruckt «Saint Omer» mit einprägsamen, kontrastreichen Bildern und starkem Schauspiel. Dass kaum Musik spielt, fällt gar nicht auf.

Nutzerbewertungen auf Letterboxd oder IMDB sind teils unterirdisch schlecht. Unverständlich. Gewiss hat Diop hier keinen Film für die Masse abgeliefert. Wer aber aufgeschlossen das Kino betritt, kann sich an einem wunderschön inszenierten und intensiven Filmerlebnis erfreuen.

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