Irgendwo in Texas: Travis Henderson (Harry Dean Stanton) wandert mit kaputten Schuhen, einer Wasserflasche und einem Sonnenbrand durch die Wüste. Fast verdurstet findet er eine verwaiste Bar. Dort stopft er sich eine Handvoll Eiswürfel in den Mund und kippt um.
Travis spricht lange nicht. Vier Jahre war er verschwunden – seine Familie glaubte, er wäre tot. Nachdem ein Arzt seinen Bruder Walt (Dean Stockwell) ausfindig gemacht hat, reisen beide mit dem Auto ins heimische Kalifornien zurück.
Nicht nur seinen Bruder, sondern auch seinen mittlerweile achtjährigen Sohn Hunter (Hunter Carson) hat Travis verlassen. Walt und seine Frau Anne (Aurore Clément) haben deshalb das Kind bei sich aufgenommen. Denn auch Mutter Jane (Nastassja Kinski) ist nirgends auffindbar.
Was ist passiert? Wer Antworten will, muss sich gedulden: Bereits 26 Minuten dauert es, bis Travis zögerlich mit Sprechen beginnt. Grund für seine Stille war keine Krankheit, sondern eine überwältigende Trauer.
Paris, Texas belohnt mit einem grossen Finale
«Paris, Texas» nimmt sich Zeit, ohne langweilig zu werden. Nicht nur Walt – er will ständig von Travis wissen, wo er die letzten vier Jahre war –, auch der Zuschauer braucht Geduld. Doch das Warten zahlt sich aus. Die letzte Stunde des Films ist grandioses Drama-Kino, perfekt inszeniert und mit einer selten gesehenen Intensität.
Der Film des Regisseurs Wim Wenders lebt von komplexen, realistischen Figuren. Walt und Anne sind herzensgute Menschen. Beide sind offensichtlich erfreut über Travis’ Rückkehr und helfen ihm, sich wieder in der Gesellschaft zurechtzufinden. Allerdings ist es für Anne sehr schwer, Hunter wieder hergeben zu müssen. Immerhin hat er sein halbes Leben bei ihnen verbracht.
Auch Travis ist nicht genau so, wie er auf den ersten Blick erscheint. Wenn später seine Gedanken klarer werden, offenbart er Schwächen, die ihm zu Filmbeginn wohl niemand zugetraut hätte. Seine überwältigende Trauer ist kein Resultat äusserer, sondern innerer Einflüsse. Wenders malt nicht schwarzweiss, sondern in Graustufen.
Wenders zeigt viele Seiten der USA
«Paris, Texas» ist Drama wie auch Roadmovie. Gleichzeitig hat der Film ein starkes Western-Flair. Nicht nur durch die Wüsten-Kulisse, sondern auch der Figuren wegen. Im Zentrum steht ein Aussenseiter, der einsam durch das schier endlose Land wandert – Travis fehlt nur ein Pferd, den Cowboy-Hut hat er bereits.
Sowieso sind die USA mehr als nur Drehort. Der deutsche Wenders zeigt ein Land zwischen unberührter Natur und Beton-Hochhäusern, Einwanderern und Hinterwäldern, Freiheit und Struktur. Die Vereinigten Staaten finden sich selbst in den Farben von «Paris, Texas» wieder. Die Bilder sind oft geprägt von rot, weiss und blau – analog dem Wappen der USA.
Um dieses wehmütige, amerikanische Lebensgefühl zu unterstreichen, hat Wenders den Film mit einem fantastischen Gitarren-Score untermalt. Die sanften und doch komplexen Klänge von Gitarrist Ry Cooder – oft sind mehrere Aufnahmen übereinander gelegt – verstärken die Bilder, sorgen gleichzeitig für die nötige Distanz zwischen Zuschauer und Protagonisten.
Die Leistung der Schauspieler ist ebenfalls auf höchstem Niveau. Sehr gut hat mir Kinderdarsteller Hunter Carson gefallen. Seine Performance ist natürlich und unverkrampft. Hervor stechen allerdings Harry Dean Stanton und Nastassja Kinski, besonders wenn sie zusammen auftreten. Mal nüchtern, mal emotional, oft herzzerreissend. Sie machen «Paris, Texas» zu einem zeitlosen Meisterwerk.