Orphan: First Kill (2022)

Prequels sind selten eine gute Idee. In der Regel dienen sie nur dazu, Filmfans mit aufgewärmten Ideen erneut Geld aus der Tasche zu ziehen. «Orphan: First Kill» hingegen ist die löbliche Ausnahme. In dieser Vorgeschichte stecken (fast) genau so viele Ideen wie im Original.

Erst mal beginnt alles wie eine typische Origin-Story: Die kleinwüchsige Psychopathin Leena Klammer (Isabelle Fuhrman), bekannt aus dem ersten Teil, bricht in Estland aus einer Nervenheilanstalt aus. Damit sie in die USA flüchten kann, gibt sie sich als Mädchen aus, das eine amerikanische Familie vor Jahren vermisst gemeldet hat.

Am Anfang scheint der Plan aufzugehen. Mit offenen Armen nimmt die wohlhabende Familie Albright ihre angebliche Tochter auf. Bald aber zeigt sich, dass nicht nur Leena ein dunkles Geheimnis hat.

Warmherzig? Tricia (Julia Stiles) wird unterschätzt.

«Orphan: First Kill» scheint zu Beginn auf dem Pfad des Originals zu wandeln. Solider Mainstream-Horror, der sich auf den Lorbeeren des ersten Teils ausruht. Auch wenn die Stimmung passt, richtig zünden will erst nichts. Im zweiten Akt macht Regisseur William Brent Bell dann eine 180-Grad-Drehung und lässt das Kartenhaus zusammenbrechen. Aus einem unspektakulären, vorhersehbaren Prequel wird plötzlich eine eigenständige und hochgradig irre Horrorstory

Mehr als Durchschnitt

Auch durch das Schauspiel hebt sich «Orphan: First Kill» von der Masse durchschnittlicher Gruselfilme ab. Besonders die Dynamik zwischen Leena und Mutter Tricia (Julia Stiles) ist explosiv. Die notorisch unterschätzte Stiles zeigt erneut ihre grosse schauspielerische Bandbreite: von liebevoll und zärtlich bis kalt und diabolisch. Dass die männlichen Protagonisten den Tiefgang von Schiessbudenfiguren haben, ist dann sekundär.

Da zwischen dem Original und «Orphan: First Kill» über zehn Jahre liegen, musste Hauptdarstellerin Isabelle Fuhrman künstlich verjüngt werden. Ganz ohne Computerarbeit ist es den Filmemachern gelungen, die Mittzwanzigerin wieder in ein Kind zurückzuverwandeln. Gruselig.

Inhaltlich gibt es einige Parallelen zum Horror-Klassiker «The Omen». Auch visuell nimmt der Film Stilelemente der 70er-Jahre auf. Die Farben sind blass und weich, wodurch «Orphan: First Kill» etwas angestaubt, aber zugleich zeitlos wirkt. Schade nur, wird dieser Retro-Charme im Finale durch misslungene Computerbilder zunichtegemacht.

Horror muss überraschend und aufregend sein, damit er funktioniert. Spätestens ab dem zweiten Akt gelingt das «Orphan: First Kill» problemlos. Regisseur Bells Werk ist Mainstream-Kino, das auch verbissene Cineasten abholen kann. Wenn sie denn wollen.

Unbestritten muss der Zuschauer einige Unplausibilitäten schlucken. Vor allem die Tatsache, dass sich eine kleinwüchsige Mittdreissigerin mit osteuropäischem Akzent in der US-Oberschicht einnisten kann. Wer das akzeptiert, erhält 100 Minuten gute Unterhaltung. Für mehr ist «Orphan: First Kill» sowieso nie angetreten.

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