Mulholland Drive (2001)

No hay banda. There is no band. Il n’y a pas d’orchestre.

Eng umschlungen sitzen die Hauptfiguren Betty (Naomi Watts) und Rita (Laura Harring) im abgedunkelten Club Silencio. Verängstigt und angespannt blicken beide zur Bühne. Irgendwas ist nicht so, wie es sein sollte.

Stille. 

Dann fällt vorne das Scheinwerferlicht auf Sängerin Rebekah Del Rio. Als sie zu «Crying» anstimmt, nimmt ihre volle und doch fragile Stimme umgehend den dunklen Raum für sich ein. 

Betty und Rita sind zu Tränen gerührt. Autorenfilmer David Lynch geht ganz nah an seine Figuren, um ihre Emotionen ungefiltert einzufangen. Als der Song seinen Höhepunkt erreicht, fällt Del Rio um. Ihre Stimme erklingt weiter. Die ganze Darbietung war bloss eine Aufnahme.

Schön und furchteinflössend: Die Szene im «Silencio».

Traumhafter Gesang, grandioses Schauspiel und intime Kameraarbeit erschaffen in Kürze eine Sogwirkung. So funktioniert grossartiges Kino. Doch der Besuch im Silencio hat eine grössere Bedeutung. Innerhalb von wenigen Minuten liefert Lynch den Schlüssel zu «Mulholland Drive»: Das Gesehene ist Illusion, selbst wenn die Emotionen real wirken.

«Mulholland Drive» beginnt ganz simpel

Der Film beginnt wie eine Detektivgeschichte, die man aus Kioskromanen kennt. Nach einem Autounfall auf den Hollywood Hills verliert Rita ihr Gedächtnis. Sie irrt zurück in die Stadt, wo sie zufällig auf die junge Schauspielerin Betty trifft, welche gerade in der Traumfabrik Fuss fassen will. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Ritas Identität.

Im Verlauf des Films wird alles auf den Kopf gestellt. Nicht mal die Namen bleiben. «Mulholland Drive» hat schärfere Kurven als die titelgebende Strasse.

Der Zuschauer hat die Wahl: Entweder lässt er sich von der surrealen, traumhaften Struktur treiben und akzeptiert Dinge und Wendungen, die er nicht versteht. Oder er achtet – und das wird spätestens beim zweiten Durchgang geschehen – penibel auf jeden kleinen Brotkrümel, den der Filmemacher platziert hat.

Auf der Suche: Betty (Naomi Watts) und Rita (Laura Harris)

An dieser Stelle möchte ich keine Interpretation liefern. Nur soviel: «Mulholland Drive» besteht aus einem realen und fiktionalen Teil. Achten Sie auf die blauen Gegenstände.

Als TV-Serie angedacht

Vor ein paar Jahren hat eine BBC-Umfrage unter internationalen Filmkritikern Lynchs 2001er-Werk zum besten Film des 21. Jahrhunderts gekürt. Das überrascht so gesehen, da «Mulholland Drive» eigentlich als Spin-Off der Kultserie «Twin Peaks» geplant war.

Lynch drehte im Auftrag des US-Senders ABC einen Pilotfilm, doch zum Handkuss kam es nicht. Das Projekt schien tot. Erst der französische Produzent Alain Sarde ermöglichte dem Filmemacher, aus dem Serienauftakt einen Spielfilm zu machen.

Als Lynch grünes Licht aus Frankreich erhielt, stand er ohne Plan da. Sämtliche Requisiten waren wieder im Umlauf, die Kulissen verschwunden. Dass er nicht dort weitermachen konnte, wo er aufgehört hatte, stellte sich schnell als Glücksfall heraus. Erst dadurch wurde aus der skurrilen Detektivgeschichte einer der interessantesten Filme der vergangenen Jahrzehnte.

«Mulholland Drive» zeigt Hollywood als Ort der Intrigen.

Der Autorenfilmer zeigt Hollywood als Ort der Hoffnung und Ängste. Um die Aura der (Alp)Traumfabrik einzufangen, setzt Lynch auf typische Filmfiguren wie den Cowboy oder die Femme fatale. Ergänzend zollt «Mulholland Drive» seinen Vorbildern Tribut: Im Apartment von Bettys Tante hängt eingerahmt ein Filmposter des Noir-Klassikers «Gilda». Und dessen Hauptdarstellerin Rita Hayworth ist Namensgeberin für Lynchs gedächtnislose Hauptfigur.

Von Klassikern inspiriert

Mit dem stellenweise intimen und erotischen Wechselspiel zwischen den beiden Frauenfiguren erinnert der Film an «Persona» von Ingmar Bergman, einer von Lynchs grössten Einflüssen. Dass sich eine Brünette als Blondine verkleidet, darf als Hommage an Alfred Hitchcocks Thriller-Klassiker «Vertigo» gedeutet werden.

Der Score von Komponist Angelo Badalamenti ist mehr als eine Untermalung der Bilder. Erst die ruhigen, aber flächendeckenden und bedrohlichen Synth-Kompositionen machen «Mulholland Drive» zu einem audiovisuellen Highlight. Lynch hat von seinem langjährigen Kollaborationspartner «etwas Russisches» verlangt. Herausgekommen ist eine einzigartige Filmmusik, die lange im Hinterkopf hängen bleibt.

Trotz aller Schwere hat «Mulholland Drive» seine leichten Momente. Schenkelklopfer fehlen, dafür sorgt manche Absurdität für feine Schmunzler. Und die typischen, stellenweise irren Settings – man denke da an den Film-Produzenten hinter der Glaswand – zeugen von einem kuriosen und subtilen Humor.

Lynch hat während seiner Karriere so manches Jungtalent ins Lampenlicht gerückt. In «Dune» war es Kyle MacLachlan, in «Blue Velvet» Laura Dern. Mit «Mulholland Drive» hat der Autorenfilmer der damals unbekannten Naomi Watts die grosse Bühne gegeben.

Und diese wird genutzt. Watts spielt auf Höchstniveau. Erst verzückt sie mit leichter Naivität, dann verstört sie mit roher Verzweiflung. Ihre facettenreiche Performance war Startschuss für eine Glanzkarriere, die eigentlich einen Oscar verdient hätte. Schade nur, klappte der Durchbruch für Laura Harring nicht.

«Mulholland Drive» ist nichts weniger als ein Meisterwerk, das seit der Uraufführung weder an Relevanz noch an Faszination verloren hat. Es fordert den Zuschauer heraus und bleibt für immer hängen. Besser geht Kino nicht.

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