Wer den Schweizer Film belächelt, hat noch nie «Mein Leben als Zucchini» gesehen. Der Stop-Motion-Animationsfilm des Wallisers Claude Barras ist ein kleines Meisterwerk. Animationen, Figuren, Drehbuch: Hier stimmt fast alles.
Die Story ist schnell erzählt: Der neunjährige Icare – Zucchini ist sein Spitzname – landet nach dem Tod seiner alkoholkranken Mutter im Waisenhaus. Die Kinder dort machen es ihm zu Beginn schwer. Bald schon lernt Zucchini aber, dass im Heim alle mit schweren Lasten leben müssen.
«Mein Leben als Zucchini» behandelt die düsteren Seiten des Lebens: Suizid, Missbrauch, Drogensucht. Dennoch ist der Film kein typisches Drama. Er zeigt die Erwachsenenwelt durch unschuldige Kinderaugen. Trotz hartem Stoff strotzt Barras’ Film von Glück, Freude und Hoffnung.
Das Rezept funktioniert. Auch da Drehbuchautorin Céline Sciamma – sie hat einen Roman von Gilles Paris adaptiert – auf Klischees verzichtet. Das Kinderheim ist kein Ort des Schreckens, sondern ein Ort der Zuflucht. Der Polizist ist kein strenger Gesetzeshüter, sondern ein einfühlsamer Mann. Von ganz dunklen Pfaden verschont Barras den Zuschauer. Damit schafft der Film gekonnt die Balance zwischen Drama und Kinderfilm.
Für Kinder und Erwachsene
So eignet sich «Mein Leben als Zucchini» auch für den Nachwuchs, wenn auch bestenfalls in Begleitung von Erwachsenen. Diese dürfte die kurzweilige, einfühlsame Story über Zugehörigkeit und Freundschaft ebenso stark ansprechen. Dass bereits nach nur 66 Minuten Schluss ist, stört nicht. Barras’ Werk hat mehr Tiefgang als die meisten Filme mit doppelter Laufzeit. Die Oscar-Nominierung 2017 war darum mehr als verdient.
Die 25 Zentimeter grossen Puppen aus Latex, Kunstharz und Silikon schaffen das Kunststück, reale Emotionen zu zeigen. Als Polizist Raymond gegen Schluss Tränen in den Augen hatte, fühlte ich mit ihm. Sowieso fängt der Stop-Motion-Animationsfilm die Realität mit vielen liebevollen Details ein: Die Poster im Schlafzimmer, die fleischfressende Zimmerpflanze im Büro oder Zucchinis Converse-Shirts. Anschauen lohnt sich alleine des Szenenbilds wegen.
Filme machen ist viel Arbeit, Stop-Motion-Filme machen noch viel mehr. Zwei Jahre haben Barras und seine 200-köpfige Filmcrew an «Mein Leben als Zucchini» gearbeitet. Alles in Handarbeit. Die Puppen wurden zwischen jeder Aufnahme minimst verändert, dann ein Foto geknipst. Pro Tag konnten die Filmemacher so rund 30 Sekunden Film drehen, am Schluss waren es 43’200 Einzelaufnahmen.
Die Musik der Schweizer Songwriterin Sophie Hunger ergänzt die liebevollen Bilder. Sie schwankt zwischen fröhlicher Kindermusik und einer düstern, Radiohead-ähnlichen Soundkulisse. Mitten im Film tanzen die Kinder zu «Eisbär» von Grauzone. Dann ist «Mein Leben als Zucchini» Schweizer Kunst in Höchstform – für Augen und Ohren.
Ganz perfekt ist Barras’ Film nicht. Ein paar Anschlussfehler trüben das Bild leicht. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, welcher Schweizer Film mich zuletzt so berührt hat. Den Vergleich mit Pixar und Co. muss er gewiss nicht scheuen.
Hinweise für Schweizer: «Mein Leben als Zucchini» ist kostenlos auf Play Suisse verfügbar.