Wenn Bradley Cooper verschwitzt vor dem London Symphony Orchestra steht, voller Herzblut und mit beiden Armen fuchtelnd die Musiker anführt, laufen mir erste Tränen runter. Schauspieler Cooper hat sich da komplett in Dirigent Leonard Bernstein verwandelt. Ein überwältigender Moment. Nichts hat mich darauf vorbereitet, dass die emotionalste Szene von «Maestro» gleich darauf folgen wird.
Biopics erzählen oft formelhaft die Leidensgeschichte eines Künstlers oder Politikers. Vom schwierigen Aufstieg bis zum Höhepunkt. Und manchmal wieder zurück. Schlechte Beispiele sind das zurechtgebogene Queen-Märchen «Bohemian Rhapsody» oder der vergessenswerte Oscar-Gewinner «Ray». Der dazugehörige Wikipedia-Artikel ist in beiden Fällen besser. Er ist präziser, informativer und weniger zeitraubend.
Interessante Biografien hingegen haben Fokus. In diese Kategorie gehört «Maestro». Statt den Lebensweg des Komponisten, Dirigenten und Pianisten abzuhandeln, konzentriert sich die Netflix-Produktion auf Bernsteins Beziehung mit seiner Frau Felicia Montealegre (Carey Mulligan). Im Zentrum stehen Emotionen statt die dröge Wissensvermittlung. Klassik-Banausen (wie ich) wissen nach dem Kinobesuch nicht mal, ob Bernstein noch lebt. Wikipedia schreibt: Er starb 1990.
«Maestro» ist das Produkt eines Perfektionisten. Cooper ist nicht nur Hauptdarsteller, sondern auch Regisseur und Co-Autor. Er hat Dirigieren gelernt und tatsächlich das weltberühmte London Symphony Orchestra angeführt. Bereits Monate vor dem Dreh sprach er mit seiner Filmpartnerin Mulligan nur noch in der Stimme des Komponisten. Am Set ebenfalls – selbst auf dem Regiestuhl. Jahrelange Vorbereitung und ein intensiver Austausch mit der Familie des Musik-Multitalents waren dafür nötig.
«Maestro» ist trotz Netflix gemacht fürs Kino
Das Resultat ist ein oft überwältigendes, manchmal etwas schrilles Porträt einer jahrzehntelangen, wechselhaften Liebesbeziehung. Plump ist «Maestro» aber nie. Vieles bleibt unausgesprochen, wodurch sich ein mystischer Nebel über die Erzählung legt. Nichts für jemanden, der sich abends von Netflix im Hintergrund berieseln lassen will.
Sowieso ist der Film im Kino besser aufgehoben. Cooper leistet als Regisseur ganze Arbeit. Wenn nötig, sind seine Analogaufnahmen ruhig und nüchtern. Lässt die Situation es zu, liegen auch atemberaubende Kamerafahrten und spektakuläre Schnitte drin. Wechsel von Farbe zu Schwarzweiss inklusive.
Selbstverständlich stammt der Score aus der Hand von Bernstein. Und der benötigt kräftige, grosse Lautsprecher. Die billige Soundbar daheim aus dem Elektronikhandel wird dem Spektakel nicht gerecht. Nur im (gut ausgestatteten) Kino können die Stücke des US-Amerikaners ihre ganze Kraft und Dynamik entfalten. Dann wird der Kinobesuch zum Konzertgang. Coopers Bilder und Bernsteins Kompositionen erschaffen eine meterhohe Wand der Emotionen. Wunderbar.
Auch das Schauspiel stimmt. Vor allem Mulligan gefällt in der Rolle der willensstarken, grosszügigen Felicia Montealegre. Sie spielt nuanciert und natürlich. Ihre Emotionen überträgt sie direkt auf den Zuschauer. Einmal mehr beweist sie, dass sie eine der besten Schauspielerinnen ihrer Generation ist. Cooper kann nicht ganz mithalten. Sein Schauspiel wirkt teils zu bemüht. Die Augen zu weit offen, das Lachen zu euphorisch. Und doch sah ich meistens Leonard Bernstein vor mir. Aber auch dank fantastischem Make-up.
Kleine Schwächen hat auch das Script. Während viele Momente sich organisch in die Geschichte einbetten, stehen einzelne Szenen im luftleeren Raum. Cooper hätte sich noch stärker aufs Wesentliche fokussieren können. Daran ist dieses Jahr allerdings auch Kritiker- und Fan-Liebling Christopher Nolan bei «Oppenheimer» gescheitert. So muss sich der vergleichsweise unerfahrene Cooper nicht verstecken. «Maestro» ist ein absolut wunderbares Zweitlingswerk. Schaut es im Kino, bevor es von der riesigen Netflix-Mediathek verschluckt wird.