Grizzly Man (2005)

«Du solltest dir diese Aufnahme nie anhören. Du solltest sie zerstören», sagt Regisseur Werner Herzog. Seine Stimme ist gedämpft. Sein Gegenüber fängt leise an zu weinen.

Es ist das letzte Video von Timothy (Tim) Treadwell und seiner Freundin Amie Huguenard. Die beiden werden von einem Grizzly tödlich angegriffen. Schreie sind zu hören, ein Bild fehlt. Die Zeit hat wohl nicht gereicht, um die Linsenkappe von der Kamera zu entfernen.

«Grizzly Man» dokumentiert das Leben von Treadwell. Grundlage dafür sind die hundert Stunden Filmmaterial, die der Tierfreund im Katmai-Nationalpark in Alaska aufgenommen hat. Regisseur Werner Herzog hat daraus einen Film gezimmert. Um ein breiteres Bild zu zeigen, hat er zusätzlich Interviews mit Experten, Verwandten und Freunden des Verstorbenen geführt.

Dreizehn Sommer hat Treadwell in der Wildnis verbracht. Die meiste Zeit war er alleine. Eigentlich wollte er Schauspieler werden, aber ohne Erfolg. Lange kämpfte er mit Alkohol und Drogen. Erst in Alaska hat er das gefunden, worin er fortan seine Bestimmung sah: Bären zu schützen. «Ich werde für diese Tiere sterben.»

Timothy Treadwell in der Wildnis mit «seinen» Grizzlys.

Anders als gewöhnliche Tierfilmer geht Treadwell nicht auf Distanz. Er spricht mit den Grossbären wie mit Kleinkindern, jeder einzelne hat einen Namen. «Grizzly Man» hat mich oft zum Schmunzeln gebracht, stellenweise auch verstört. Etwa dann, wenn der Mittvierziger euphorisch über den frischen Kot einer Bärin spricht. «Das war gerade noch in ihr drin!»

In den USA kannte man Treadwell. Selbst Talk-Legende David Letterman bot dem selbsternannten Bären-Schützer eine Bühne. War er nicht bei den Tieren, hielt der Filmemacher an Schulen Vorträge über «seine Bären» – kostenlos, wie er gerne betonte.

«Grizzly Man» stellt die richtigen Fragen

Sein Engagement war umstritten. Im Verlauf des Films lernt der Zuschauer, dass die Bären eigentlich keinen Schutz gebraucht hätten. Die Population im Nationalpark war stabil und die Wilderei, die Treadwell so verteufelte, kaum ein Thema. Kritiker werfen dem Umwelt-Aktivisten vor, er habe die Tiere an den Menschen gewöhnt – und sie dadurch in Gefahr gebracht.

Die Natur wollte nicht immer wie der Filmemacher. Der hat darum auch mal nachgeholfen. Er baute einen Fluss um, damit die Lachse – die Leibspeise der Grizzlys – besser durchschwimmen konnten. Und wenn die Tiere unter Trockenheit litten, betete er für Regen.

Es wäre einfach gewesen, Treadwell als weltfremden Naivling abzustempeln. Regisseur Herzog tut das nicht. Er nimmt ihn ernst, begegnet ihm auf Augenhöhe – selbst wenn er seine Position nicht immer teilt.

Herzog fehlt – wie Treadwell auch – machmal die Distanz. Er interveniert, etwa indem er Treadwells Kollegin Jewel Palovak ans Herz legt, das Video der Bären-Attacke zu vernichten. Allerdings glaube ich nicht, dass Herzog einen objektiven Film machen wollte. Dafür mischt er sich als Erzähler viel zu oft ins Geschehen ein und liefert die Interpretation zu den gezeigten Aufnahmen teilweise gleich selbst.

Anders als viele Dokumentationen gaukelt der Film keine absolute Wahrheit vor. Vielmehr sehe ich darin einen respektvollen Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Filmemachern. Treadwell der Naturalist, Herzog der Realist. Das macht «Grizzly Man» sehr eigenständig und besonders sehenswert.

Treadwell ist mit unserer Welt nie richtig zurechtgekommen, lieber wäre er ein Bär gewesen. Der Film über sein Lebenswerk stellt die richtigen Fragen: Wie weit darf Tierliebe gehen? Wie viel Realität dürfen wir ausblenden, wenn wir unsere Passion gefunden haben? Herzog und Treadwell dürften sich bei dieser Frage nicht einig gewesen sein.