Wer ist hier das Tier? Das ist die zentrale Frage, die Altmeister Jerzy Skolimowski in «EO» stellt. Der Film, der einen grauen Esel durch Europa begleitet, ist ein audiovisuell überwältigender, äusserst eindringlicher Appell für einen humanen Umgang mit Tieren.
Der Esel EO lebt in einem Zirkus. Als die Behörden Tierauftritte verbieten, landet der Vierbeiner auf einer Pferderanch. Es ist der Auftakt einer kurzweiligen Reise von Polen nach Italien. Die Menschen, so zeigt sich schnell, reagieren nicht alle erfreut auf den grauen Vierbeiner mit seinen grossen, treuen Augen.
Der 84-jährige Pole Skolimowski, der das Drehbuch gemeinsam mit seiner Ehefrau Ewa Piaskowska verfasst hat, erzählt «EO» aus der Perspektive des Esels. Viel Dialog gibt es darum nicht. Mit intimen, teils psychedelischen Bildern und einem melancholischen, aber drängenden Score macht der Filmemacher die Gedanken- und Gefühlswelt des ruhigen Vierbeiners für den Zuschauer erlebbar.
EO akzeptiert seine Realität als Nutztier mit Demut. Wenn Fussballfans ihm einen Schal anziehen, macht er mit. Und wenn er schreiende Kinder auf seinem Rücken tragen muss ebenfalls. Selten macht der Esel mit einem lauten Iahen deutlich, dass ihm etwas nicht passt. Skolimowski vermenschlicht das Tier aber nie.
Die traurige Realität
Dieser Realismus ist niederschmetternd. Immer wieder – etwa wenn EO träumt – macht der Regisseur deutlich, dass hinter den dunklen Augen des Esels ein fühlendes Lebewesen steckt, das einen würdevollen Umgang verdient hätte. Tränen und gebrochene Herzen sind garantiert. Der graue Vierbeiner steht dabei stellvertretend für die Milliarden von Tieren, die von Menschen in engen Käfigen und dreckigen Ställen gehalten werden.
Aus seiner Position macht der Filmemacher in den 88 Minuten Spielzeit keinen Hehl. «EO» ist eine Liebeserklärung an Tiere und Natur – eigentlich das Arthouse-Pendent zu «Avatar: The Way of Water», der derzeit in den grossen Kinosälen läuft. Beide Spielfilme appellieren ungeniert für Tier- und Umweltschutz, wenn auch an ein ganz unterschiedliches Publikum.
Mit dem Klassiker «Zum Beispiel Balthasar», der als Inspiration diente, hat «EO» ausser Esel und Rahmenhandlung darum wenig gemeinsam. Anders als der Franzose Robert Bresson stellt Skolimowski nicht die Menschen, sondern das Tier in den Mittelpunkt. Spirituell-religiöse Elemente fehlen, stattdessen zeigt uns der Pole die harsche Realität.
Skolimowskis Spätwerk ist derzeit im Rennen für den internationalen Oscar. Vollkommen gerechtfertigt. Kein Film hat mich dieses Jahr so stark mitgenommen wie «EO». Ein aufrichtiges und herzerwärmendes Meisterwerk, das Sinne und Geist zugleich anregt. Möge dieser kleine graue Esel uns zum Umdenken bringen.