Elle (2016)

Dass «Elle» aneckt, wird schnell klar: Der Film beginnt mit einer Sexszene. Die erste Aufnahme zeigt eine Katze, die dem Treiben zuschaut. Witzig. Der Perspektivenwechsel nimmt die Leichtigkeit schlagartig weg: Das ist kein Sex, sondern eine Vergewaltigung.

Nach dem heftigen Einstieg hält die Verwirrung an. Michèle (Isabelle Huppert) meldet die Tat nicht der Polizei. Dafür lässt sie die Schlösser austauschen. Im Waffenladen kauft sie sich ein Beil und Pfefferspray, beim Frauenarzt lässt sie sich auf Geschlechtskrankheiten testen. Ihren Freunden berichtet sie den Vorfall nur beiläufig beim gemeinsamen Dinner.

Michèle ist wohlhabend und wohnt allein in einer Wohnung in Paris. Von ihrem Mann hat sie sich scheiden lassen. Ihr gehört gemeinsam mit einer Freundin ein Gamestudio. Als Chefin ist sie direkt. Ihre Angestellten – grösstenteils Männer – mögen sie nicht. Ist einer von ihnen der Vergewaltiger?

Männliche Antihelden gibt es viele, Antiheldinnen sind im Kino rar. Michèle ist berechnend und kalt, gleichzeitig verwirrt und herzlich. Das fasziniert – und macht die Protagonistin unberechenbar. Sie trifft in meinen Augen teils unlogische Entscheide. Damit bin ich nicht allein. Selbst Schauspielerin Huppert sagt, sie habe die Figur nicht ganz verstanden.

«Elle» sollte man mehrmals anschauen

Der Film liefert allerdings einige Anhaltspunkte. Michèles Vater ist ein verurteilter Massenmörder. In religiösem Wahn hat der Katholik 27 Menschen getötet. Dieses Kindheitstrauma dürfte manchen Entscheid erklären. Und ebenso den Unwillen, die Polizei zu involvieren.

Die Handlung verläuft gradlinig, doch hat der Film mehrere Ebenen. Die Vergewaltigung ist ein wichtiger Teil der Geschichte, aber nur ein Teil. «Elle» sollte man darum mehrmals anschauen. Einem Genre kann man ihn schlecht zuordnen. Der Film ist spannend, abgründig und dramatisch, oft auch humorvoll. Ein Thriller, Psycho-Drama und eine politisch unkorrekte Komödie in einem. Langweilig wird das nie.

Paul Verhoeven und Isabelle Huppert am Set von Elle.

Der niederländische Regisseur Paul Verhoeven dürfte den meisten Kinogängern für seine Arbeit in Hollywood bekannt sein. Mit «Robocop» und «Total Recall» hat er das Science-Fiction-Kino geprägt, mit «Basic Instinct» dem Erotik-Thriller neues Leben eingehaucht.

Der französischsprachige Film wirkt wie ein Fremdkörper in Verhoevens Schaffenswerk. Allerdings nur auf den ersten Blick. Der Niederländer verzichtet auf Effekthascherei, die Kernthemen Sex und Gewalt bleiben aber. Verhoeven ist auch im Alter ein Kino-Provokateur.

Eigentlich wollte der Regisseur den Film in den USA drehen. Doch Hollywood-Studios und US-Schauspieler winkten ab. Zum Glück. Auch wenn Verhoeven auf der Verpackung steht, «Elle» ist eindeutig Hupperts Film. Die Pariserin liefert eine starke Performance ab, die mit einer Oscar-Nomination und einem Golden Globe ausgezeichnet wurde. Sie schafft es, Michèle trotz aller Unfassbarkeit fassbar zu machen – so weit das denn möglich ist.

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