Im Kino tauchen wir in fremde Welten ein, erhalten neue Blickwinkel und fühlen mit fremden Menschen mit. Ein oft ergreifendes Erlebnis. Der bekannte Filmkritiker Roger Ebert sprach darum vom Film als Empathie-Maschine. Doch trifft das nicht auf alle populären Kunstformen zu? Eine Einschätzung eines Filmliebhabers.
Ob Film, Musik, Literatur, Malerei oder Fotografie: Jede Form von Kunst kann den Zuschauer, Zuhörer, Leser oder Betrachter in die Lage anderer versetzen, neue Perspektiven zeigen und grosse Gefühle auslösen. Sei es die gemalte, überwältigende Wärme von Wassily Kandinskys «Impression III», die gesungene, ungefilterte Zärtlichkeit in Nick Caves «Into My Arms» oder die geschriebene, tiefe Verbundenheit in Elena Ferrantes «L’amica geniale».
Jedoch ist keine dieser Kunstformen so einfach zugänglich wie der Film. Malerei und Fotografie präsentieren starke Momente. Viele Werke entfalten ihre ganze Wirkung jedoch nur mit zusätzlichen Informationen. Um bei den Beispielen zu bleiben: Kandinskys abstraktes Bild wird nahbarer, wenn man weiss, dass er Musik in Farben gesehen hat. Selbst dann bleibt das Sujet für den ungeübten Betrachter unverständlich.
Fotografien sind wichtige Zeitzeugen. Ein einzelnes Bild kann eine Geschichte erzählen, wie das «Napalm-Mädchen» des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten vietnamesischen Fotografen Nick Út. Das berühmte Foto fängt die Grauen des Krieges perfekt ein. Allerdings beantwortet die Aufnahme wichtige Fragen nicht: Wann wurde das Bild aufgenommen? Wovor rennt das Mädchen weg? Wer hat die Bombe abgeworfen? (Antworten gibt es hier.)
Die Literatur kennt diese Probleme nicht. Im Gegenteil: Sie lässt, wenn sie es will, den Leser ganz tief in fremde Welten eintauchen. Manche mögen argumentieren, dass sie dem Film dabei gar überlegen sei. Allerdings ist die Eintrittshürde merklich höher. Während sich ein Film passiv und oft mit vergleichsweise wenig Sprachkenntnissen konsumieren lässt, ist beim Buch stets eine Tätigkeit nötig: lesen. Die perfekte Empathie-Maschine sollte zugänglicher sein.
Und die Musik? Ja, Nick Caves «Into My Arms» lässt umgehend mitfühlen. Allerdings scheitern viele Musikstücke an den Zuhörern. Die kurzen, oft poetischen Texte lassen viel Raum für Fehlinterpretationen. Man denke an den Rock-Klassiker «Born in the U.S.A.» von Bruce Springsteen: US-Präsident Donald Trump spielt den Song über einen enttäuschten, im Stich gelassenen Kriegsveteranen feierlich während Wahlkampfveranstaltungen. Und Tech-Guru Mark Zuckerberg hat jüngst damit ein Video untermalt, das ihn auf einem Wakeboard eine US-Flagge schwenkend zeigte. Beide sind damit meilenweit von der Botschaft des Absenders entfernt.
Hingegen lässt der Hollywood-Film «Born on the Fourth of July» von Regisseur Oliver Stone, der praktisch dasselbe Thema behandelt wie Springsteen, keine Zweifel zu. Wir sehen einen jungen, übermotivierten Burschen, der nach dem Krieg als gebrochener Mann zurückkehrt. Wir sehen die Enttäuschung in seinem Gesicht und hören die Wut durch seine Worte. Und verstehen ihn. Selbst dann, wenn wir ihn nicht ganz verstehen.
Der Film kombiniert die Stärken anderer Kunstformen. Er nimmt die Kraft der Bilder, den Tiefgang der Literatur und die Präsenz der Musik und erschafft ein Kunstwerk, das Emotionen direkt auf seinen Zuschauer übertragen kann. Ein Bild einer weinenden Person berührt, ein mit Musik unterlegtes Bewegtbild davon ist herzzerreissend. Der Film lässt dem Betrachter oft keine andere Möglichkeit, als mitzufühlen. Er ist die perfekte Empathie-Maschine.