Ja, «Der denkwürdige Fall des Mr Poe» klingt nach einem zweitklassigen Jugendroman. Doch hinter dem sperrigen und irreführenden deutschen Titel steckt mehr: Eine morbide Detektivgeschichte über Verlust und Rache, die durch ihren hochkarätigen Cast aus der Masse der Streaming-Filme heraussticht.
Die USA im Winter 1830: Der ehemalige Polizist Augustus Landor (Christian Bale) wird beauftragt, an einer Militärakademie den Suizid eines Kadetten zu untersuchen. Schnell stellt er fest, dass der Mann nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Unterstützung erhält der Ermittler von einem jungen, damals noch unbekannten Dichter namens Edgar Allan Poe (Harry Melling).
Poe war tatsächlich an der Militärakademie in West Point, «Der denkwürdige Fall des Mr Poe» ist aber Fiktion. Der Film von Regisseur Scott Cooper basiert auf dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Louis Bayard.
Der deutsche Titel führt den Leser in die Irre. Im Zentrum der Geschichte steht nicht Poe, sondern der Ex-Polizist Landor. Der berühmte Dichter ist bloss Nebenfigur. Sowieso stellt sich die Frage, wieso dem deutschsprachigen Publikum nicht der Originaltitel zugemutet werden kann. Das mystisch klingende «The Pale Blue Eye» trifft die Stimmung des Werks viel besser.
Schöne Kostüme, schwerer Score
«Der denkwürdige Fall des Mr Poe» ist zuerst ein klassischer Mystery-Thriller: Der Zuschauer folgt Landor bei den Ermittlungen. Wer hat den jungen Kadetten ermordet? Filmemacher Cooper legt zu Beginn mehrere Fährten, ehe er im dritten Akt das Geschehene nochmals auf den Kopf stellt.
Rätselfieber wie bei Agatha Christie kommt beim Zuschauer nicht auf. «Der denkwürdige Fall des Mr Poe» lebt mehr von Stimmung als Spannung. Nicht nur wegen schneebedeckten Landschaften und schönen Kostümen, sondern auch durch den schaurigen, schweren Score von Altmeister Howard Shore.
Filmemacher Cooper schreitet gemächlich voran und jongliert mit vielen Figuren. Das Resultat wirkt unstimmig: In knapp über zwei Stunden Spielzeit entsteht weder eine komplexe Krimi-Geschichte, noch eine tiefgründige Charakterstudie. Ein paar unecht wirkende Bilder aus dem Filmstudio helfen hier ebenfalls nicht. Immerhin macht ein starkes, erinnernswertes Ende vieles davon wieder wett.
Sehenswert ist «Der denkwürdige Fall des Mr Poe» des Casts wegen. Neben einem der talentiertesten Schauspieler Hollywoods in der Hauptrolle, kann der Film mit einer Reihe bekannter Gesichter auftrumpfen. Darunter Toby Jones, Charlotte Gainsbourg, Gillian Anderson und Kinolegende Robert Duvall.
Auch wenn «Der denkwürdige Fall des Mr Poe» nicht zu Coopers besten Werken gehört, so ist der Film doch gute Unterhaltung. Kein Meisterwerk, aber perfekt für einen verregneten Sonntagnachmittag auf der Couch. Genau das, was das Publikum von einem Netflix-Film erwartet.