Wer Netflix als stumpfe Content-Schleuder beschimpft, tut der Streaming-Plattform unrecht. Neuster Beweis ist das Historiendrama «Das Wunder». Eine faszinierende Reise zurück in Zeiten, als Wissenschaft und Religion um Deutungshoheit kämpften.
1862. Wunderkind Anna O’Donnell (Kíla Lord Cassidy) soll seit vier Monaten nicht gegessen haben. Die Krankenschwester Lib Wright (Florence Pugh) wird darum von den Dorfobersten beauftragt, das zu überprüfen. Benötigt Anna tatsächlich kein Essen oder ist sie eine Schwindlerin?
Die Bevölkerung ist gespalten. Auf der einen Seite sind die Religiösen, welche in Anna ein göttliches Wunder sehen. Manche pilgern in das kleine Dorf, um das Mädchen zu besuchen. Auf der anderen Seite sind die Anhänger der Naturwissenschaft, die die Neunjährige als Lügnerin abstempeln.
Gekonnt spielt der argentinische Regisseur Sebastián Lelio mit diesen Gegensätzen. Die Möglichkeit, dass Gott Anna ernährt, scheint für den aufgeschlossenen Zuschauer zunächst eine valable Option. Auch Krankenschwester Lib, die sich lieber an Fakten als an Gefühlen orientiert, zweifelt an ihren Überzeugungen.
«Das Wunder» nimmt sich Zeit
Bis zur Wahrheit ist es eine dunkle Reise. Lelio erschafft beeindruckende Bilder, die vom ersten Moment an packen. Mit dunklen Landschaftsaufnahmen und durch Kerzen beleuchteten Innenräumen lässt er den Zuschauer spüren, dass etwas nicht stimmt. Untermalt wird das Geschehen von einem düsteren, schwerfälligen Score. Ein wahrlich grossartiges Kinoerlebnis, wenn auch auf dem heimischen Sofa.
«Das Wunder» lässt sich im Aufbau viel Zeit, ohne dass jemals Langeweile aufkommt. Im Gegenteil: trotz minimalistischer Handlung fesselt das Historiendrama wie ein packender Thriller. Auch dank sauber ausgearbeiteten, glaubwürdigen Figuren. Nur gute Filmemacher können das, und Lelio gehört eindeutig dazu.
Der Film profitiert auch von einer erneut fulminanten Darbietung von Florence Pugh. Mit ihrer subtilen und hyperrealistischen Performance beweist sie erneut, dass sie zu den ganz Grossen in ihrem Metier gehört. In den Nebenrollen sind ein paar gestandene britische Schauspieler, die aber im Vergleich zu Pugh allesamt etwas blass wirken.
Wenn die Wahrheit hinter dem Wunderkind ans Licht kommt, eröffnet «Das Wunder» eine weitere, fast politische Ebene. Interpretationsspielraum gibt es dann kaum noch, was richtig und wichtig ist, dem Film aber einen Teil seiner Magie raubt.
Auch wenn die Geschichte fiktional ist, so basiert sie auf überlieferten Tatsachen. Im 19. Jahrhundert gab es in Grossbritannien und den USA mehrere sogenannte «Fasting Girls», die angeblich keine Nahrungsmittel zu sich nahmen. Bekannteste war Sarah Jacob, deren Geschichte in weiten Teilen Grundlage für «Das Wunder» war.
Bisher fliegt der Film noch unter dem Radar der Filmgemeinde. Das sollte sich ändern. «Das Wunder» ist nicht nur eine hervorragende Netflix-Produktion, sondern einer der besten Filme des Jahres.