Acht Jahre war David Cronenberg von der Bildfläche verschwunden. Mit «Crimes of the Future» meldet er sich jetzt in Bestform zurück. Vorbei sind die Zeiten der starken, aber zugänglichen Romanverfilmungen. Der Filmemacher konzentriert sich wieder auf klassischen Body-Horror, der sich vor früheren Werken nicht verstecken muss.
In einer nicht genannten Zukunft entwickeln manche Menschen neue, unbekannte Organe. Performancekünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) ist einer von ihnen. Doch statt sich der Evolution zu beugen, lässt er sich seine neuen Innereien während exzentrischen Kunstdarbietungen von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) entfernen. Damit sind nicht alle einverstanden.
Cronenberg präsentiert eine dreckige Welt. Weil der Mensch Infektionskrankheiten überwunden hat, ist Sauberkeit unnötig. Operiert wird auf der Strasse oder auf dem Industriegelände. Schimmel an der Wand? Wen interessiert das schon. Gedreht hat der Autorenfilmer in Athen, wo göttliche Architektur und heruntergekommene Seitengassen Hand in Hand gehen.
Cronenberg zeigt Blut, Innereien und offene Wunden. Aber nicht nur für den Schockeffekt. Body-Horror – ein Subgenre, das der Kanadier praktisch erfunden hat – ist auch im Fall von «Crimes of the Future» mehr als nur ein Mittel um den Kinogänger zu ekeln.
Crimes of the Future ist mehr als nur Horror
Der Filmemacher spielt gleich mit mehreren Themen: Kritik an der Kunstwelt, Akzeptanz des körperlichen Zerfalls und die Anpassung an eine von uns zerstörte Umwelt. Gerade Letzteres spricht Cronenberg brillant, aber ebenso unaufgeregt an. Trotzdem ist Subtext in «Crimes of the Future» zweitrangig. Der Fokus liegt auf dem Filmerlebnis.
Und das ist erstklassig. Wenige Minuten nach Beginn ist der Zuschauer in Cronenbergs faszinierend-dreckiger Retro-Zukunft gefangen. Grundlage dafür liefern die tristen und stimmungsvollen Bilder wie der bedrückende Klassik-Score von Cronenberg-Kollaborator Howard Shore. Die Sogwirkung erhält «Crimes of the Future» allerdings erst durch die Erschaffung einer detaillierten, unberechenbaren und faszinierenden Welt. Neuartige Organe sind erst der Anfang.
Cronenberg setzt auf eine unkonventionelle Erzählweise. Erklärungen gibt es erst mal nicht; vielmehr schubst er den Zuschauer in seine dunkle Welt hinein und lässt ihn nach dem Weg tasten. In der Konsequenz entwickelt sich die Handlung von «Crimes of the Future» nur gemächlich. Sie steht auch nicht im Zentrum: hier geht es vielmehr darum, ein Lebensgefühl einzufangen.
Cronenberg hat eine Reihe von starken Schauspielern, die ihn dabei unterstützen. Viggo Mortensen überzeugt durch ein zurückhaltendes, fast schüchternes Schauspiel. Léa Seydoux als Gegenpol spielt emotionaler, ist gleichzeitig aber weniger fassbar. Nur Kristen Stewart, die die Nebenrolle der Ermittlerin Timlin übernimmt, übertrumpft die beiden Hauptdarsteller. Mit ihrem nervösen Spiel zielt sie direkt auf das Nervenzentrum des Zuschauers. Der starke Cast lässt über die etwas schwach entwickelten Figuren hinwegsehen.
Ein Kinostart für «Crimes of the Future» ist aktuell in der Schweiz nicht geplant. Schade, aber wenig überraschend. Unbequemer Filmstoff wird im Land der Banken, Kühe und Berge gerne ignoriert. Und unbequemer als das Entfernen von neuartigen, menschlichen Organen in einem Hinterhof geht eigentlich kaum.