Glaubt man Gaspar Noé, macht er Filme nicht für sein Publikum, sondern für sich selbst. Das Resultat sind experimentelle und faszinierende, gleichzeitig abgründige und brutale Werke. Der Tanzfilm «Climax» macht keine Ausnahme, ist aber zugänglicher.
Regisseur Noé liefert gleich zu Beginn Hinweise in welche Richtung «Climax» gehen wird. Auf einem alten Röhrenfernseher zeigt er die Vorstellungsgespräche seiner 21 Protagonisten. Die Tänzer sprechen über Leidenschaft, Religion und Träume. Interessanter ist aber der Bücher- und VHS-Stapel neben dem TV. Dort finden sich Analysen über Friedrich Nietzsche, «Die Verwandlung» von Franz Kafka sowie Horrorfilm-Klassiker wie «Suspiria» oder «Possession».
Nach dem Epilog dreht «Climax» zum ersten Mal richtig auf. Der Film beginnt mit einer imposanten Tanz-Choreografie in einer Turnhalle, getragen von pulsierenden Elektrobeats. Das fesselt mich vom ersten Takt an, obwohl ich vom Tanzen nichts verstehe – Filmmagie in reinster Form. Die rund zehnminütige Anfangsszene überzeugt auch, weil Noé sie ohne Schnitt aufgenommen hat – offensichtlich inspiriert durch «Victoria».
Nach der Tanz-Probe – es ist die letzte vor einer Tour in den USA – wird Sangria aufgetischt. Die Stimmung unter den jungen Künstlern wird euphorischer. Getanzt wird jetzt aus Freude. Dass etwas mit dem Getränk nicht stimmt, merken die Protagonisten zu spät. Der Albtraum hat da schon längst begonnen.
Der Soundtrack von «Climax» hypnotisiert
«Climax» spielt an einem Ort, während einer Nacht, irgendwo in Frankreich Mitte der 90er Jahre. Der Film soll auf wahren Ereignissen basieren. Belege dafür gibt es jedoch nicht. Das macht ihn nicht weniger effektiv.
Durch den fast durchgehenden, hypnotischen Elektro-Soundtrack – er stammt von Szene-Grössen wie Aphex Twin oder Thomas Bangalter – hat «Climax» eine Sogwirkung. Der Zuschauer kann die Augen nicht von der Leinwand lassen, selbst wenn er längst nicht mehr hinsehen will.
Verglichen mit Noés Vorgängerwerken «Irreversible» oder «Menschenfeind» ist sein vorerst letzter Spielfilm zurückhaltender. Menschliche Abgründe sind auch in «Climax» omnipräsent, doch auf explizite Gewaltdarstellung verzichtet der gebürtige Argentinier dieses Mal. Als erster von Noés Filmen erhielt «Climax» in den USA gar eine R-Freigabe (Kinder nur in Begleitung eines Erwachsenen).
Die Handschrift des Regisseurs ist eindeutig erkennbar. Er arbeitet mit hohen Kontrasten. Die Ampel-Farben rot, orange und grün dominieren das Bild. Typisch für Noé passt sich die Kameraführung stark an die Stimmung der Protagonisten an. Sind nach den Tanz-Proben die Aufnahmen komplett ruhig, dreht sich das Bild gegen Schluss im Kreis. Hilflos erlebt der Zuschauer die Abwärtsspirale der Figuren mit, als wäre er vor Ort.
Noés Drehbuch umfasste nur wenige Seiten. Am Set hat der Regisseur seine Schauspieler – abgesehen von Sofia Boutella sind alles professionelle Tänzer – zum Improvisieren aufgefordert. Das Resultat sind natürliche, oft aber banale Dialoge über Liebe, Sex und Drogen.
Eine Hauptfigur gibt es nicht. Der Fokus des Regisseurs ändert sich ständig – je nachdem, was im Tumult gerade interessant scheint. Tiefgang und Symbolik gibt es kaum. «Climax» ist ein Erlebnis, keine Charakterstudie. Die Figuren dienen dem Film, nicht umgekehrt.