Immer wieder geht es bei Horrorfilmen ums Anderssein. Man denke an Frankensteins Monster oder Dracula. In diese Reihe gesellt sich auch «Bones and All» von Luca Guadagnino. Der sizilianische Filmemacher hat ein gefühlvolles Horror-Roadmovie über zwei junge Erwachsene erschaffen, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen – und dabei ihre Gier nach Menschenfleisch stillen müssen.
Virginia in den 80er-Jahren: Maren (Taylor Russell) lebt mit ihrem Vater in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung. Nachdem aber die 17-jährige einer Schulfreundin den Finger abbeisst, taucht der Vater ab. Er könne nicht mehr die Verantwortung für sie übernehmen. Mit ein paar hundert Dollar und einem Rucksack zieht auch sie los.
Bald lernt Maren, dass ihre Lust nach Menschenfleisch mit einer Gabe einher geht: Sie kann Gleichgesinnte riechen. Und so trifft sie in einem Supermarkt auf Lee (Timothée Chalamet). Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, die sich quer durch die Vereinigten Staaten zieht.
«Bones and All» ist auf den ersten Blick ein wilder Genremix. Hier das feinfühlige Erwachsenwerden-Drama, da ein Roadmovie und dort ein blutrünstiger Kannibalenhorror. Guadagnino verbindet die vermeintlichen Widersprüche mit einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit. Anders als Julia Ducournau, die mit «Raw» jüngst mit ähnlichen Zutaten arbeitete, hält sich der Italiener mit Schockeffekten mehrheitlich zurück und konzentriert sich stattdessen auf das Drama. Ein starker Magen ist dennoch von Vorteil.
Junge Liebe blendet den Zuschauer
Im Kern geht es um Zugehörigkeit. Das Leben als Kannibale, so macht es «Bones and All» deutlich, ist ein einsames. Doch ruhig und nachvollziehbar zeigt der Filmemacher, wie aus einer spontanen Freundschaft eine tiefe Liebe entsteht. In schönen Momenten geht vergessen, dass dieses Paar für sein Überleben morden muss.
Fragen über die Moral des Tötens stellt «Bones and All» zwar, eine ernsthafte Debatte entsteht aber nicht. Auch Lees provokativen Vergleich mit der Massentierhaltung – Kühe haben auch Kinder und Eltern – verfolgen Regisseur Guadagnino und Drehbuchautor David Kajganich nicht weiter. Schade. Die Buchvorlage von Camille DeAngelis, so heisst es, habe hier mehr zu bieten.
Nicht, dass «Bones and All» deswegen oberflächlich wäre. Indem mehr das Anderssein als der Kannibalismus im Fokus steht, öffnet sich der Film für mehr Interpretationsmöglichkeiten. Wer will, kann das Kannibalen-Drama als Allegorie für Drogensucht oder Homosexualität sehen. Für beides liefert Guadagnino nachvollziehbare Argumente.
Allem voran aber weiss er den Film als visuelles Medium zu nutzen. Analog aufgenommen, erinnert «Bones and All» mit seinen weiten, kargen Landschaftsaufnahmen an klassische Western. Das passt perfekt zu den zwei rastlosen Hauptfiguren. Auch den Horror erschafft er gekonnt. Ohne viel zu zeigen – manchmal nur mit einem Schmatzen aus dem Nebenraum – entfacht Guadagnino das Kopfkino des Zuschauers.
Auf hohem Niveau ist auch das Schauspiel. Russell und Chalamet harmonieren vom ersten Moment an und machen durch ihr natürliches Spiel die Leiden der jungen Kannibalen erlebbar. Ergänzt mit einem düster-minimalistischen Score von Trent Reznor und Atticus Ross wird «Bones and All» so trotz Stolpersteinen im Script zu einer magischen Filmreise.