Ich verstehe mein Land nicht, aber ich liebe es. Mit diesem Satz bringt Hauptfigur Silverio (Daniel Giménez Cacho) seinen Konflikt auf den Punkt. «Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten» ist ein surreales und visuell berauschendes, aber teils etwas zähflüssiges Drama über Herkunft und Identität.
Nach grossen Erfolgen in den USA kehrt der gefeierte Dokumentarfilmer Silverio nach Mexiko zurück. Seine Heimat, so muss er bald feststellen, ist ihm fremd geworden. Es ist der Beginn einer erschütternden Identitätskrise, die direkt Parallelen zur US-mexikanischen Geschichte zieht.
Nach den Erfolgen mit «Birdman» und «The Revenant» blieb es um Autorenfilmer Alejandro G. Iñárritu sieben Jahre still. Mit «Bardo» kehrt er nun mit einem persönlichen Werk zurück. Die Ähnlichkeiten zwischen dem realen und dem fiktionalen Filmemacher sind dabei offensichtlich. Wie Silverio hat auch der Mexikaner Iñárritu in den USA Karriere gemacht. Wohl nicht zufällig ähnelt Hauptdarsteller Cacho auch optisch dem Oscar-Preisträger.
Wie viel Wahrheit in «Bardo» steckt ist schlussendlich unklar. Und auch irrelevant. Interessant ist die Geschichte allemal, da Iñárritu eine widersprüchliche und komplexe Figur ins Zentrum stellt.
Kritik erwartet
Der gutbetuchte Silverio lebt in einem Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung als arm gilt. Als Dokumentarfilmer, der auf Missstände aufmerksam macht, profitiert er gleichzeitig von deren Armut. Er feiert Erfolge, weil andere leiden. Das macht ihm zu schaffen.
Dafür kann man Iñárritu Narzissmus vorwerfen. Doch das hat der vierfache Oscar-Preisträger vorausgesehen. Rund 90 Minuten im Film muss sich Silverio von einem Journalisten genau das anhören, was einige Filmkritiker derzeit Iñárritu an den Kopf werfen.
Unbestritten sind einige Einwände der Kritiker gerechtfertigt. Mit 159 Minuten Laufzeit ist «Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten» – wie der Titel – zu lang geraten, obwohl der Filmemacher bereits nach der Premiere in Venedig sein Werk gekürzt hat. Besonders im zweiten Akt fühlt sich der Film redundant und zähflüssig an.
Die fantastische Kameraarbeit mit vielen atemberaubend natürlichen Weitwinkelaufnahmen machen vieles wett. Wenn Silverio ziellos durchs Land zieht, kommen Erinnerungen an die hypnotischen Spätwerke von Terrence Malick hoch. Iñárritus Signatur ist zweifellos erkennbar, insbesondere durch die perfekt choreografierten Single-Shot-Aufnahmen. Die komischen und surrealen Elemente gehören ebenfalls zu seinem Repertoire.
Der ganz grosse Wurf ist Iñárritu mit «Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten» nicht gelungen. Viel Charme und Ideenreichtum lassen aber über Fehler weitgehend hinwegsehen. Iñárritu hätte auch nüchtern, ohne Fantasie und Spektakel von seinem Leben erzählen können. Doch das wäre wohl weniger interessant gewesen.