Athena (2022)

Kaum angelaufen, schon fliegt der Molotowcocktail. In «Athena» gibt es keine Versöhnung, sondern blinden Hass. Filmemacher Romain Gavras verwandelt Unruhen in einem Banlieue zu einer Tragödie von biblischem Ausmass. Ein wilder Mix aus Action und Drama, der zuweilen den Zuschauer ermüdet.

Nach dem Tod seines jüngeren Bruders Idir schwört Karim (Sami Slimane) Rache. Er glaubt, die Polizei habe den Buben ermordet. In einer spektakulären Aktion verbarrikadiert Karim sich mit seinen Anhängern in einem Hochhauskomplex und fordert den Kopf des vermeintlichen Mörders. Nur sein älterer Bruder, der Soldat Abdel (Dali Benssalah), kann jetzt noch vermitteln.

«Athena» legt umgehend los. Der Film beginnt mit einem atemberaubenden, zehnminütigen Shot, der vollgepumpt mit brachialer Action ist. Das ist technisch beeindruckend, obwohl die Szene eigentlich aus sieben Aufnahmen besteht, die nachträglich nahtlos ineinander geflochten wurden. Gavras zieht damit den Zuschauer umgehend ins Geschehen hinein. Ruhe wird über die rund anderthalb Stunden Laufzeit nur selten einkehren.

Will Rache: Karim (Sami Slimane)

Obwohl wahre Geschehnisse aus dem Herbst 2005 als Inspiration dienten, taugt «Athena» nicht als Studie über den Zustand der Banlieues. Werbe- und Musikvideofilmer Gavras packt zwar entsprechende Elemente wie Armut, Kriminalität und Polizeigewalt rein, nutzt sie aber nur als Würze. Wer in das Lebensgefühl französischer Vororte spüren will, ist mit «Hass» von Mathieu Kassovitz oder «Die Wütenden – Les Misérables» von «Athena»-Co-Autor Ladj Ly besser bedient. Gavras liefert hingegen biblischen Stoff: Bruder gegen Bruder.

Athena Kritik: Viel Spektakel, wenig Substanz

Das überrascht – und funktioniert. Der Zuschauer begleitet Karim und Abdel durch enge Flure, dreckige Treppenhäuser, Bars und Kellerabteile. Der Filmemacher schneidet nur selten und generiert dadurch eine hohe Intimität. Werden Kühlschränke und Mikrowellen auf die Polizisten geworfen, fühlt man sich vor dem Bildschirm unwillentlich als Mittäter.

Durch die unmittelbare Nähe zu den Figuren und dem hohen Action-Anteil kommen Erinnerungen an Kriegsfilme hoch. Je grösser das Chaos, desto mehr Abgründe eröffnen sich in der Welt von Gavras und seinen Figuren. Doch während Kriegsfilme in der Regel meist Gesellschaftskritik reinpacken, bleibt «Athena» still. Figuren und Plot kratzen nur an der Oberfläche, Raum für Empathie und Reflexion fehlt.

Gavras setzt lieber auf Spektakel statt Substanz. Und hält mit beeindruckenden Kamerafahrten, starkem Schauspiel, dröhnendem Score und einer Prise Surrealismus den Zuschauer lange bei Laune. Erst ab dem dritten Akt wird «Athena» durch seine Redundanz etwas ermüdend. Zumal der Film ein paar Abbiegungen nimmt, die wenig organisch scheinen.

Gescheitert ist «Athena» deswegen nicht. Zu gut ist das Konzept, zu stark ist der Film inszeniert. Gavras hätte sich stärker auf seine Figuren konzentrieren sollen, dann wäre das Action-Drama perfekt. Jetzt ist es nur gut.