Autorenfilmer Sean Baker begegnet in «Anora» einer eigenwilligen Sexarbeiterin auf Augenhöhe. Und beweist sich dabei erneut als Menschenfreund. Eine wunderbare Tragikomödie über falsche Liebe und grundverschiedene soziale Schichten. Hauptdarstellerin Mickey Madison hievt sich mit ihrer Darbietung in die Schauspiel-Oberliga.
Wir treffen Ani (Madison) im Nobel-Stripclub. Dort lernt sie zufällig den Oligarchen-Sprössling Ivan (Mark Edelshtein) kennen. Er spricht nur gebrochen Englisch, kompensiert jedoch seinen beschränkten Wortschatz mit viel Geld und ebenso viel guter Laune. Die Tänzerin und Sexarbeiterin fühlt sich vom jungen Russen angezogen. Die Anziehung ist gegenseitig. Nach einer Woche wird in Las Vegas geheiratet.
Die Euphorie hält nicht lange. Nachdem Ivans Eltern von der Blitzhochzeit erfahren haben, bricht Chaos aus. Statt Flitterwochen muss sich Ani nun mit russischen Schlägertypen und einem unterwürfigen Pfarrer herumschlagen. Die Ehe soll annulliert werden. Die warme Luxus-Luft weicht bald einer nüchternen, kalten Realität.
«Anora» ist eine Mischung aus wilder Liebeskomödie und geerdetem Sozialdrama. Autorenfilmer Sean Baker umgeht dabei Klischees fast ganz. Das gilt für die Geschichte wie die Figuren. Ani ist eine komplexe Person. Sie ist kämpferisch, frech und wortstark, aber auch verletzlich und naiv. Der Zuschauer lacht und weint mit ihr.
Anora stellt sich hinter seine Hauptfigur
Baker zeigt zwei Welten mit wenig Berührungspunkten. Hier Sexarbeiterinnen in kleinen Wohnungen, da Oligarchen in abgeschotteten Villen. Die clevere Ani schafft den Spagat problemlos. Zumindest so lange, wie man sie lässt. Der Filmemacher bleibt über lange Zeit unparteiisch. Am Kipppunkt stellt er sich dann hinter seine Hauptfigur.
Sexarbeit ist lange schon Thema in Bakers Filmen. Niederschmetternde Milieudramen sind ihm jedoch fern. Auch in «Anora» zeigt er Anis Arbeit urteilsfrei. Über die junge Frau urteilen hingegen andere. Der Regisseur zeigt eindrücklich, welches Ansehen Sexarbeit in unserer Gesellschaft nach wie vor hat: ein geringes.
Bakers neuester Film ist oft zum Schreien komisch. Wenn aber Anis neu gewonnene Welt langsam zusammenbricht, dämpft sich die Stimmung. Aus dem lebensbejahenden, pfeilschnellen Feelgood-Film wird eine Tragikomödie mit bissigem Humor. Der Übergang geschieht nahtlos.
Besonders hervorzuheben ist die Leistung Madisons. Die Kalifornierin zeigt in knapp über zwei Stunden ihre komplette schauspielerische Bandbreite. Vom breiten New Yorker Akzent, über unkontrollierte Wutausbrüche bis zu ganz verletzlichen Momenten. Wenn es dafür keine Oscar-Nominierung gibt, wofür denn dann?
Am Festival von Cannes hat «Anora» die Goldene Palme erhalten. Damit hat die Jury auch dieses Jahr richtig entschieden. Bakers neuester Film ist schlicht magisch. Aufrichtig, zugänglich und doch frei von jeglichen Oberflächlichkeiten. Ein Höhepunkt des bald endenden Kinojahres.