In «All of Us Strangers» erwachen Geister zum Leben. Ein einfühlsames Liebesdrama zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bestechend schön inszeniert, musikalisch zauberhaft begleitet und grossartig gespielt. Wenn ein Film bei den Oscars übersehen wurde, dann dieser.
Mittvierziger Adam (Andrew Scott) lebt seit Jahren abgeschottet in einem Apartmentkomplex in London. Freunde hat er hier keine mehr. Die sind alle nach der Geburt der Kinder aufs Land gezogen. Menschlicher Kontakt fehlt auch bei der Arbeit: Als Drehbuchautor schreibt er in seiner Wohnung.
Zufällig lernt er im Aufzug den 20 Jahre jüngeren Harry (Paul Mescal) kennen. Auch der lebt zurückgezogen. Und so entsteht aus einem unbeholfenen Flirt schnell eine sinnliche Liebesbeziehung. Die Zukunft scheint nach Jahren der Einsamkeit wieder hoffnungsvoll. Bis die Vergangenheit Adam einholt.
Überraschend trifft er vor einem Supermarkt seinen Vater (Jamie Bell). Eigentlich eine Unmöglichkeit: Beide Eltern sind in den 80er-Jahren bei einem Autounfall gestorben. Und doch steht er nun vor ihm. Zusammen gehen sie nach Hause, wo die Mutter (Claire Foy) bereits wartet.
«All of Us Strangers» basiert lose auf einem Roman des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada. Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh hat der Geschichte einen modernen Anstrich verpasst. Seinen japanischen Ursprung kann der Film dennoch nicht verheimlichen.
Eine zweite Chance
Geistergeschichten sind tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Dabei geht es um mehr als blanken Horror. Man denke an die populären Gruselfilme «Ring», «Grudge» oder «Pulse»: Sie alle konfrontieren ihre Figuren mit früheren, unverarbeiteten Schandtaten.
Auch «All of Us Strangers» bringt offene Wunden ans Licht. Für sein Anderssein wurde Adam in der Schule gehänselt. Der Vater aber ignorierte den Buben, wenn dieser weinend im Zimmer sass. Durch den plötzlichen Tod der Eltern war später keine Aussprache möglich. Dafür ist jetzt Zeit.
Die Kernthemen Einsamkeit, Reue und Vergebung sind universell. Gleichzeitig ist «All of Us Strangers» einer der besten queeren Filme der letzten Jahre. Er macht deutlich, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit Homosexuellen in den vergangenen drei Jahrzehnten zum Positiven entwickelt hat. Adams Eltern konfrontieren ihren Sohn mit Fragen, die heute undenkbar sind.
Über «All of Us Strangers» hängt eine schwere, melancholische Wolke. Die taucht nach wenigen Filmminuten auf und zieht erst lange nach dem Abspann ab. Ein immersives Filmerlebnis. In Kitsch driftet Regisseur Haigh (fast) nie ab. Selbst Adams verspätetes Coming-out vor den Eltern missbraucht er nicht für unnötige Rührseligkeiten.
Musik als Teil der Geschichte
Der Filmemacher liefert ein nahezu makelloses Werk ab. Grandios hat er Popsongs in sein Werk integriert, die nicht bloss die Bilder untermalen. Der Dance-Klassiker «Always on my Mind» von den Pet Shop Boys wird nach wenigen Takten Teil der Erzählung und erlaubt den Figuren, versteckte Gefühle auszudrücken. Brillant und herzerwärmend. Der sanfte Synthscore von Komponistin Emilie Levienaise-Farrouch ergänzt die kontrastreichen, ruhigen Bilder auf der Kinoleinwand perfekt.
Das Schauspiel aber hievt den Film in die Meisterklasse. Bell und Foy harmonieren als Elternpaar wunderbar. All ihrer Fehler und Vorurteilen zum Trotz lassen sie vergessene Kindheitserinnerungen aufkommen. Und Senkrechtstarter Mescal überzeugt erneut mit einer besonders nuancierten Darstellung.
Schlussendlich ist es aber Hauptdarsteller Scott, der «All of Us Strangers» trägt. Der Schauspieler, der seit Jahren die Film- und Serienwelt in meist kleineren Rollen bereichert, zeigt hier sein ganzes Können. Seine Darbietung ist schlicht überragend. Mit jedem verschmitzten Lächeln, jedem leeren Blick und jeder zögerlichen Reaktion macht er die Hauptfigur ein Stück greifbarer. Er ist das pochende Herz dieses wunderschönen Films.