In keinem Moment ersichtlich, dass «Aftersun» ein Spielfilmdebüt ist. Die Schottin Charlotte Wells liefert ein wunderschön inszeniertes, höchst intimes und anspruchsvolles Drama über eine zerbrechliche Vater-Tochter-Beziehung. Ein reflektierter Film fürs Herz, der aber nur bei wachem Hirn zünden kann.
Die 30-jährige Sophie blickt zurück. Zurück auf damals, Ende der 90er-Jahre, als sie mit Ihrem jungen Vater Calum (Paul Mescal) eine Woche in einem günstigen Ferienresort in der Türkei verbracht hat. Dabei stellt sie fest, dass sie ihn als 11-Jährige ganz anders wahrgenommen hat, als er eigentlich war.
Die Geschichte von «Aftersun» ist simpel aber profund. Was erst als Rückblick auf einen warmen Sommerurlaub beginnt, gewinnt bald an Komplexität. Es sind kleine Teile, die schlussendlich das Gesamtbild ausmachen. Nur aufmerksamen Zuschauern wird schlussendlich die ganze Tragik der Geschichte bewusst.
Der Film deckt eine ganze Bandbreite von Themen ab, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen will. Wells gelingt dabei das grosse Kunststück alles so zusammenzuflechten, dass es stets organisch wirkt. Nie kommt der Verdacht auf, «Aftersun» erzähle nur eine Geschichte. Was hier gezeigt wird, fühlt sich real an.
Perfekt gespielt, meisterhaft inszeniert
Natürlich auch wegen der wunderbaren Dynamik zwischen den beiden Hauptdarstellern. Frankie Corio – sie spielt die junge Sophie — und Paul Mescal passen perfekt zusammen. Das Zusammenspiel dieser beiden Ausnahmetalente ist so intim und so glaubwürdig, man möchte die beiden Figuren in den Arm nehmen.
Nur gutes Kino löst solch starke Emotionen aus und «Aftersun» ist einer der besten Filme, den das Vereinigte Königreich in den vergangenen Jahren produziert hat. Unverständlich, dass Wells› Debüt von der BAFTA nicht als bester Film nominiert wurde.
Die Qualitäten von «Aftersun» gehen weit über das natürliche Schauspiel und die einfühlsame Erzählung hinaus. Wells hat ihr Debüt schlicht meisterhaft inszeniert. Sie spielt gekonnt mit Perspektiven, Licht und Reflexionen und weiss, wie man Stimmungen bildlich auf den Zuschauer überträgt. Ihre Bildsprache ist verständlich, aber stets eigen.
Auch bei der Musik überlässt die Filmemacherin nichts dem Zufall. Wells spielt mit britischen Popklassikern von David Bowie oder Blur und flechtet die Stücke gekonnt in die Handlung ein. Plötzlich klingt nichts mehr so, wie man es eigentlich in Erinnerung hat. Das Gedächtnis verfälscht eben die Realität.
Der Film wird trotz seiner vielen Qualitäten nicht alle ansprechen. Manchen dürften all die Zwischentöne, die eigentlich die Geschichte erzählen, für ein befriedigendes Kinoerlebnis nicht ausreichen. Doch das geht in Ordnung, «Aftersun» ist kein Film für die Masse. Auch das hat seinen Wert.